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Empörung über die geleakte Gefangenenliste aus Xinjiang

Esther Felden
21. Februar 2020

Jewher Ilham ist die Tochter des inhaftierten uigurischen Akademikers Ilham Tohti. Sie lebt in den USA im Exil. Die DW hat mit ihr über den jüngsten Leak aus Xinjiang gesprochen.

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Plenarsitzung des Europäischen Parlaments, Ilham Tohti
Jewher Ilham ist die Tochter des uigurischen Aktivisten Ilham Tohti, der in China inhaftiert ist. Bild: picture-alliance/dpa/P. von Ditfurth

Eine Recherche der DW und anderer Medien hat enthüllt, wie willkürlich der chinesische Staat muslimische Uiguren in Xinjiang verfolgt: ein Anruf ins Ausland, das Tragen eines Kopftuches, das Schließen eines Restaurants während des Fastenmonats Ramadan sind Banalitäten, die Hunderten Uiguren aus dem Kreis Karakax in der Autonomieregion Xinjiang zum Verhängnis geworden sind.

Das geht aus der geleakten Gefangenenliste hervor, die der DW und anderen Medien zugespielt wurde. Die Karakax-Liste gibt Aufschluss über die Kriterien, auf deren Basis Angehörige der muslimischen Minderheit in chinesischen Umerziehungslagern interniert wurden und werden. 

Darüber hat DW-Reporterin Esther Felden mit Jewher Tohti gesprochen. Sie ist die Tochter des inhaftierten Bürgerrechtlers Ilham Tohti, der 2019 mit dem Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments ausgezeichnet wurde. Der Wirtschaftswissenschaftler Tohti lehrte bis Anfang 2014 an der Minzu-Universität in Peking. Dann wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt.   

Deutsche Welle: Was haben Sie empfunden, als Sie von dem neuen Leak gehört haben?

Jewher Ilham: Viele der Informationen haben mich nicht überrascht. Es hat mich einmal mehr erschaudern lassen. Wie damals, als ich zum ersten Mal von den Umerziehungslagern gehört habe. Bei dem neuen Leak war es jetzt dasselbe Gefühl. Ich habe schon vieles gehört von Menschen, die selbst in einem Lager inhaftiert waren und heute wieder draußen sind. Dennoch ist es schockierend, jetzt den Beweis zu haben, wie jemand von den Behörden ins Visier genommen wird, nur weil er Familienangehörige im Ausland hat. Das ist inakzeptabel und tragisch.

Haben wir mittlerweile ein relativ vollständiges Bild der Lage?

Ich denke, da gibt es noch ganz viel, was wir nicht wissen. Das geschieht ja nicht nur in einer Stadt oder in einem Bezirk, sondern in der ganzen Provinz. Es gibt hunderte solcher Lager in Xinjiang, und mindestens eine Million Menschen sind dort interniert. Ich bin mir sehr sicher, dass wir da noch viel mehr herausfinden können.

Welche Auswirkungen könnte das geleakte Dokument Ihrer Meinung nach haben? Wie sehr setzt es die chinesische Regierung unter Druck?

Ich verlange eine sofortige Reaktion von Seiten der chinesischen Regierung. Ich hoffe, dass sie aufhört, das Ganze als Fake News zu bezeichnen. Es handelt sich um einen Leak aus China, und die Echtheit des Dokuments ist bestätigt. Ich hoffe, die chinesische Führung hat eine Erklärung dafür.

Was erhoffen Sie sich von der Internationalen Gemeinschaft und insbesondere auch von Deutschland?

Leider denke ich, dass noch immer sehr viele Leute gar nichts davon mitbekommen haben. Sie wissen nicht einmal, wer die Uiguren sind. Das habe ich neulich erst wieder erlebt, als ich für die Verleihung des Sacharow-Preises in Europa war. Ich habe einen Tag in Berlin verbracht. Obwohl es rund um den Preis so viel Berichterstattung über die Uiguren gab, konnten Menschen, mit denen ich mich unterhalten, damit gar nichts anfangen. Es macht mich sehr traurig, dass die Tragödie der Uiguren so wenig bekannt ist.

Plenarsitzung des Europäischen Parlaments, Ilham Tohti
Jewher Ilham ist die Tochter des uigurischen Aktivisten Ilham Tohti, der in China inhaftiert ist. Bild: picture-alliance/dpa/P. von Ditfurth

Haben die im November 2019 veröffentlichten "China Cables" nichts an der öffentlichen Wahrnehmung geändert?

Durch diesen Leak hat China immerhin zugegeben, dass es die Umerziehungslager überhaupt gibt. Allerdings hat die Führung das erst getan, als erdrückende Beweise auf dem Tisch lagen. Vorher haben sie die Existenz solcher Lager immer ganz abgestritten. Und als sie es endlich eingestanden haben, gaben sie an, es handle sich um berufliche Bildungszentren. Durch den neuen Leak ist klar, dass das nicht stimmt. Hier geht es nicht um Weiterbildung. Es geht vielmehr darum, jede einzelne Familie in der Region ins Visier zu nehmen.

In der Liste hat die DW auch in mehreren Dutzend Fällen Hinweise auf Zwangsarbeit gefunden.

Ja, die chinesische Regierung behauptet, viele Uiguren hätten ihr Weiterbildungsprogramm in den Lagern abgeschlossen. Tatsächlich mag es sein, dass sie dort ein - in Anführungsstrichen - Programm absolviert haben. Aber danach wurden viele in ein Arbeitslager geschickt. Einige hatten einen Doktortitel oder einen Master, und dann mussten sie in einer Fabrik Schachteln oder Textilien herstellen. Ich denke, dass die meisten der Betroffenen, die ja eigentlich für etwas anderes ausgebildet sind, nicht unter Zwang in so einer Fabrik arbeiten möchten, zumal der Lohn sehr gering ist.

Angst vor Chinas Lagern - Uiguren im türkischen Exil

Ihr eigener Vater wurde im Januar 2014 verhaftet. Haben Sie eine Ahnung, wo genau er sich befindet und wie es ihm geht?

Nein, ich habe seit 2017 keinerlei Informationen mehr über ihn. Seitdem ist es meinen Verwandten verboten, ihn zu besuchen. Angehörige, die nicht in Xinjiang leben, fahren aus Angst nicht mehr in die Region. Und diejenigen, die dort wohnen, trauen sich nicht, nach den Gründen zu fragen, warum die Regierung die Besuche unterbunden hat. Alle fürchten, selbst in einem Lager zu enden.

Sie haben also noch Verwandtschaft in der Region?

Ja, die meisten meiner Verwandten leben noch dort. Meine Stiefmutter und meine beiden Brüder wohnen aber schon immer in Peking.

Haben Sie noch Kontakt zu Familienmitgliedern in Xinjiang?

Nein, alle haben mich schon 2015 oder 2016 in ihren Social Media Kanälen geblockt.

(Hinweis der Redaktion: An dieser Stelle unterbricht Jewher Ilham das Interview kurz und weist darauf hin, dass sie aus Sicherheitsgründen nicht mehr zu ihrer Familie sagen möchte, um niemanden in Gefahr zu bringen.)

Wann haben Sie selbst zum letzten Mal mit Ihrem Vater gesprochen?

Am 02. Februar 2013 sollten wir zusammen in die USA reisen. Aber dann wurde er am Flughafen verhaftet. Drei Tage später wurde er freigelassen und unter Hausarrest gestellt. In den elf Monaten danach haben wir täglich dreimal geskypt, einfach um uns zu vergewissern, dass es dem anderen gut geht. Am 15. Januar 2014 wurde er dann wieder verhaftet. Einen Tag zuvor habe ich ihn zum letzten Mal gesprochen.

China Uigure Ilham Tohti Öknonom
Der uigurische Aktivist Ilham Tohti, Professor in Peking, wurde wegen "Separatismus" zu lebenslanger Haft verurteilt. Bild: Getty Images/AFP/F.J. Brown

Was ist sein letzter bekannter Aufenthaltsort?

Das ist das Gefängnis Nr. 1 in Ürümqi. Dort konnten meine Verwandten ihn vor 2017 besuchen.

Haben Sie irgendwelche Informationen darüber, wie es Ihren Verwandten in Xinjiang geht und inwieweit sie überwacht werden?

Ich weiß, dass eine meiner Cousinen inhaftiert und zu einer Strafe von zehn Jahren verurteilt wurde - weil sie auf ihrem Handy ein Foto meines Vaters und einen seiner Texte gespeichert hatte. Sie ist Krankenschwester und nur ein paar Jahre älter als ich. Sie wurde auf offener Straße an einem der vielen Checkpoints festgenommen.

Da sitzen dann Polizeibeamte an einem Tisch und verlangen, dass man ihnen das Handy gibt, damit sie Überwachungssoftware darauf installieren können. Meine Cousine wollte ihnen ihr Telefon zunächst nicht geben, aber sie haben es ihr abgenommen. Und dann haben sie darauf das Bild und den Artikel gefunden. Sie haben meine Cousine gefragt, warum sie das auf dem Handy hat, und sie hat geantwortet: Das ist mein Onkel. Dann wurde sie verhaftet.

DW Investigativ Projekt: Uiguren Umerziehungslager in China ACHTUNG SPERRFRIST 17.02.2020/17.00 Uhr MEZ
Dieses Umerziehungslager in Xinjiang war im Mai 2019 mit Stacheldraht, Mauern und Wachtürmen gesichert. Bild: AFP/G. Baker

Ich weiß nicht, wo sie ist. Ob sie wie mein Vater in einem richtigen Gefängnis sitzt oder in einem Lager. Auf den offiziellen Seiten des chinesischen Rechtssystems konnten wir zu ihr nichts finden. Es gibt so viele Fälle, wo Menschen ohne ordentliches Gerichtsverfahren angeklagt, verurteilt und inhaftiert worden sind.

Als Ihr Vater damals vor Ihren Augen am Flughafen festgenommen wurde, sind Sie allein in die USA geflogen und leben bis heute dort. Waren Sie seitdem jemals wieder in China?

Nein, nie. Mein Vater hat immer mit moderater Stimme gesprochen. Sein großes Anliegen war es, die chinesische Regierung dabei zu unterstützen die Spannungen zwischen Han-Chinesen und Uiguren abzubauen. Wenn jemand wie er weggesperrt wird, dann würde ich ganz sicher auch in ein Lager gesteckt werden. Ich hänge an meiner Freiheit.

Denken Sie, dass Sie auch in den USA von chinesischer Seite überwacht werden?

Da bin ich mir sicher. Ich kann zum Beispiel mit Hilfe eines Computer-Programms herausfinden, ob jemand versucht hat, auf mein Email-Konto zuzugreifen und von welcher IP-Adresse aus. Die meisten der Adressen stammten aus China.

Einmal war ich zu einer uigurischen Hochzeit eingeladen. Ich habe diese Information über Social Media mit meiner Familie in China geteilt, habe gefragt: Was für ein Kleid soll ich kaufen? Kurz danach kontaktierten die Behörden in Xinjiang die dortige Verwandtschaft des frisch verheirateten Paares. Und teilten ihnen mit, dass man jemanden wie mich nicht zu seiner Hochzeit einladen sollte. Das könne gefährlich werden.

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Ende 2016 begann die chinesische Regierung, immer rigoroser gegen die Uiguren vorzugehen: Seitdem ist ein umfassendes Netz aus Arbeitslagern und Gefängnissen entstanden.Bild: picture-alliance/dpa/AP Photo/File

Haben die chinesischen Behörden jemals versucht, Sie einzuschüchtern?

Nein, sie haben niemals versucht, sich an mich persönlich zu wenden. Tatsächlich überrascht mich das.

Wie schaffen Sie es, weiter daran zu glauben, dass Ihr Vater eines Tages aus dem Gefängnis kommt?

Mein Vater hat mich gelehrt, positiv zu denken, bis zuletzt. Man muss immer an der Hoffnung festhalten, hat er zu mir gesagt. Und das tue ich jetzt. Ich hoffe darauf, dass er in der nächsten Minute entlassen wird. Oder am nächsten Tag, im nächsten Monat. Ich hoffe einfach immer weiter.