Liz Truss und Großbritanniens Krise
6. September 2022Kaum bog die frisch gebackene Premierministerin Liz Truss mit ihrer Wagenkolonne in Richtung Downing Street ab, da öffnete sich der Himmel zu einem gewaltigen Regenguss. Stürmische Zeiten im Sinne des Wortes, denn sie findet die größte Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten vor und sieht sich einer Bevölkerung gegenüber, die in einer Mischung aus Angst, Wut und Verzweiflung vor dem kommenden Winter dringend Hilfe erwartet.
Liz Truss hatte zuvor einen Abstecher nach Schottland machen müssen, zum Sommersitz der Queen. Elisabeth II. beauftragte mit ihr Premierminister beziehungsweise Premierministerin Nr. 15 in ihrer eigenen langen Amtszeit. Seit Winston Churchill hat sie alle kommen und gehen sehen, und nur selten kam ein Regierungschef oder eine Regierungschefin in einer derart schwierigen Lage ins Amt. Liz Truss versuchte in ihrer traditionellen ersten Ansprache vor der schwarzen Tür von Downing Street 10 denn auch gleich, ihre Bürger zu beruhigen. "Wir werden gleich diese Woche konkret die Energiekrise in Angriff nehmen", versprach die neue Premierministerin, um sich im nächsten Satz als Mutmacherin der Nation zu versuchen: "Wir können den Sturm überstehen."
Auf die Einzelheiten müssen die Briten jetzt noch bis Donnerstag warten, wenn Truss im Parlament sprechen wird. In den Medien kursiert allerdings seit Beginn der Woche, dass ein Rettungspaket von bis zu 100 Milliarden Pfund geschnürt werden soll, um die Energiepreise für Haushalte und Unternehmen bis ins nächste Jahr einzufrieren. Das würde zweifellos die Inflation auf ein erträglicheres Maß zurückbringen, hätte allerdings Folgen für die Staatsverschuldung.
Abgesehen davon trug Truss einmal mehr die Grundsätze ihrer konservativen Ideologie vor, beschwor "Freiheit, Unternehmertum und (…) Selbstverantwortung" sowie harte Arbeit als urbritische Werte. Trotz des dramatischen U-Turn in punkto Energiekrise - in ihrem Wahlkampf hatte sie immer wieder geschworen "keine Geschenke" zu verteilen - blieb sie bei ihrem zweiten großen Glaubenssatz: Sie werde Großbritannien an die Arbeit bringen "mit einem kühnen Plan aus Steuersenkungen und Reformen". Dabei herrscht auf der Insel quasi Vollbeschäftigung, nur sind die Löhne zu niedrig und die Produktivität zu gering.
Und so wie ihr Vorgänger immer die "sonnenbeschienen Höhenzüge" in Großbritanniens Zukunft beschwor, zu denen es dann nie kam, hatte auch Liz Truss ein Schlagwort parat. Sie wolle das Land zu einer "Nation der großen Ziele" formen. Praktisch gesehen aber kann sie froh sein, wenn sie politisch den nächsten Winter übersteht, ein skeptisches Parlament ihr nicht in den Rücken fällt und sie zumindest einige der übrigen Baustellen in der britischen Multikrise in den Griff bekommt.
Kosten für Energie verdreifachen sich
Zum 1. Oktober werden sich die Energiepreise für Haushalte fast verdoppeln, zu Beginn des neuen Jahres sollen sie weiter steigen und sich verdreifachen. Zwar bezieht Großbritannien kaum russisches Gas, kauft aber Energie am internationalen Markt und ist deshalb von den aktuell steigenden Energiepreisen genauso wie der Rest Europas betroffen.
Millionen von britischen Verbrauchern in den unteren bis mittleren Einkommensklassen können diese Preise nicht mehr bezahlen. Nach Schätzungen werden rund zwölf Millionen Briten in den nächsten Monaten vermutlich in sogenannte "Energiearmut" fallen.
Steigende Inflation
Die Inflation liegt derzeit bei rund zehn Prozent. Sie ist mitgetrieben von den Energiekosten und könnte nach Berechnungen der Bank of England auf bis zu 18 Prozent klettern.
Auch der generelle Preisanstieg bei Lebensmittelpreisen übt weiter Druck auf britische Geringverdiener aus. "Heizen oder Essen" sei für viele die große Frage im nächsten Winter, so schreiben britische Zeitungen, und wenn Liz Truss nicht mit einem gewaltigen Hilfspaket eingreife, könnte die Antwort für viele Haushalte heißen: "Keins von beidem."
Gesundheitssystem NHS vor dem Kollaps
6,7 Millionen Briten stehen auf Wartelisten für eine Behandlung in britischen Krankenhäusern. Vor den Notaufnahmen stauen sich die Krankenwagen mit Wartezeiten bis zu 15 Stunden. Patienten sind verstorben, weil sie nicht rechtzeitig behandelt wurden.
50.000 Stellen für Krankenschwestern und Ärzte können nicht besetzt werden und Briten haben kaum noch Zugang zu einem niedergelassenen Arzt. Das gesamte System steht kurz vor dem Zusammenbruch. Milliardeninvestitionen wären nötig, um die Versorgung überhaupt zu erhalten. Ähnliches gilt für Pflegeeinrichtungen - die Heime leiden an Personalmangel und sind unterfinanziert.
Nicht vorbereitet auf Klimawandel
Großbritannien deckt nur sechs Prozent seines Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen. Gleichzeitig verfügt es über den ältesten, am schlechtesten isolierten Wohnraum in Europa. Würden die Briten ihre historischen Häuser dämmen und doppelverglaste Fenster einführen, ließe sich ein Drittel der Energie im Land einsparen.
Auch auf der Insel herrschten in diesem Sommer Dürre und Temperaturen bis zu 40 Grad. Gleichzeitig sorgten massive Mängel in der Infrastruktur unter anderem dafür, dass landesweit Flüsse und Strände von den Wasserversorgern durch die Einleitung roher Abwässer verseucht wurden. Insgesamt fehlen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und eine Anpassung des Landes an die neuen Wetterbedingungen.
Abrissreife Schulen
Die Schulen leiden an Lehrermangel und sind unterfinanziert, viele Gebäude abrissreif. Das Thema erscheint jedoch kaum auf der konservativen Agenda. Die Schulen sind zugleich vom befürchteten Anstieg der Lehrergehälter und vom massiven Anstieg der Energiepreise betroffen.
Auch viele Kultureinrichtungen befürchten, im Winter ihre Tore schließen zu müssen. Dabei sollen sie eigentlich frierenden Bürgerinnen und Bürgern als warme Aufenthaltsräume dienen, wenn sie ihre Wohnungen nicht heizen können.
Streikwelle und soziale Unruhen
Es werden zahlreiche weitere Streiks von Beschäftigten im öffentlichen Dienst erwartet. Teile der Belegschaft der Bahn streiken bereits tageweise, die öffentlichen Strafverteidiger sind im Ausstand. In britischen Großstädten hat die Polizei bereits diskrete Übungen abgehalten, um sich auf größere soziale Unruhen vorzubereiten.
Noch mehr Schulden?
Die britische Staatsverschuldung liegt seit der Pandemie bei etwa 100 Prozent. Legte Liz Truss ein neues Hilfsprogramm auf, würde sie weiter ansteigen. Allerdings erklärte ihr mutmaßlicher neuer Finanzminister Kwasi Kwarteng, es werde kein "verantwortungsloses Schuldenmachen" geben. Der Staatshaushalt verfügt jedoch nicht über die erforderlichen Milliardensummen ohne neue Kreditaufnahme.
Der Artikel wurde nach der Rede von Liz Truss am 6.9.2022 aktualisiert.