Chronistin der Erinnerung
25. Dezember 2011Wenn Lizzie Doron an das Haus ihrer Kindheit denkt, dann fallen ihr Begriffe wie Wärme und Sonne ein, besondere Gerüche, der Geschmack von Essen. Sie wuchs in Tel Aviv auf. In ihrem Viertel habe es keine grauen Tage gegeben, sagt sie, und die Atmosphäre dort sei beschützend und liebevoll gewesen. Gleichzeitig aber war da noch etwas anderes: "Wenn ich an unsere Nachbarn denke, dann glaube ich, ich bin in einer Art Flüchtlingslager aufgewachsen." Diese Nachbarn waren Überlebende des Holocaust und nach dem Zweiten Weltkrieg aus Europa nach Israel emigriert. "Sonderbare Menschen mit einer seltsamen Mentalität - an heißen Augusttagen zum Beispiel haben sie uns Kindern nicht erlaubt, das Haus ohne Pullover oder Mantel zu verlassen."
Gerettet, aber entwurzelt
Auch Lizzie Dorons Mutter gehörte zu denen, die dem nationalsozialistischen Völkermord entkommen und in ein fremdes Land, eine fremde Kultur übersiedelt waren - traumatisierte, unendlich verlorene Menschen in einer Umgebung, die sie als fremd erlebten. Gerettet, aber entwurzelt. So hat sich die Mutter der Autorin immer empfunden. Ein starkes Gefühl der Heimatlosigkeit, eine andauernde Sehnsucht nach Europa habe ihr Leben bestimmt: "Sie hat immer gedacht, ihr ist etwas Schreckliches passiert. Sie hat sich gefühlt, als wäre sie nach Israel deportiert worden."
Die Bewohner des Viertels - Gefangene der Erinnerung an ein altes, verlorenes Leben, das so anders war als das neue - hielten an ihren europäischen Gewohnheiten und Traditionen fest. Und die Kinder, die in der fremden Heimat geboren wurden, sollten nichts von der Vergangenheit ihrer Eltern wissen, sie mussten unter allen Umständen vor Angst, Gefahr, Krankheit und jeglichem Unglück geschützt werden. Antworten auf ihre Fragen danach, was passiert war, bekamen sie nie. "Wir wussten gar nichts, es gab allenfalls Bruchstücke, die ich aufschnappte, wenn meine Mutter mit ihren Freundinnen in der Küche saß - bei Apfelstrudel und Kaffee". Lizzie Doron, 1953 geboren, ist eine Vertreterin dieser "Zweiten Generation" - jener jungen Leute also, die in den 1950er Jahren in einem jüdischen Staat aufwuchsen, der auf Stärke setzte, auf Wehrhaftigkeit, Aufbruch, auf ein neues Leben nach der opferreichen Vergangenheit. Von Kriegen bleiben die Menschen in freilich auch in Israel nicht verschont. Diese Gegenwart prägt auch Lizzie Doron. Nach der Schule zieht sie von zu Hause aus, geht, wie alle anderen, zur Armee, lebt in einem Kibbuz.
Verschüttete Erinnerung
Erst viele Jahre später - sie hat längst eine eigene Familie - wird Lizzie Doron zu einer Chronistin dieser Brüche und Umbrüche, der Fragen und des Schweigens. Ihre Mutter ist gestorben, sie selbst arbeitet als Linguistin an der Universität, da bittet ihre Tochter um Hilfe bei einem Aufsatz. Sie soll beschreiben, woher die Familie kommt und wo ihre Wurzeln liegen. Plötzlich öffnet sich eine Tür in die Vergangenheit, zur Kindheit in Tel Aviv, zu den Menschen, die damals im Viertel gelebt haben. Aus den Notizen für die Tochter wird der erste Roman. Doron hat ihr Thema gefunden. Es sind die Albträume der Davongekommenen, die Gespenster der Vergangenheit - aber auch die Grotesken des Alltags. Ihre Romane spiegeln auch heitere, komische Seiten des Lebens dieser 'seltsamen Menschen', die die Autorin jetzt, als Erwachsene, so gut versteht, den Witz, den sie mitgebracht haben aus Europa, ihren Sinn fürs Absurde. Und immer steht ihre Mutter im Mittelpunkt der Geschichten.
Das Schweigen ihrer Mutter ist nun auch Titel und Thema des neuen Buches, das - wie viele andere - auf Deutsch erschienen ist. Im Mittelpunkt steht der Vater - ein Abwesender, ein Schemen auf einem Foto, den das Kind im Roman sucht, aber nie kennenlernen wird. Wer war dieser Vater? Was war sein Schicksal? Diesen Fragen geht das Buch nach.
Zwei Heimatländer
Lizzie Doron, die zunächst gar nicht Schriftstellerin werden wollte, ist eine fleißige Autorin. Dabei hat sie in sich mittlerweile sogar eine Art deutscher Tugend entdeckt: "Ich bin sehr diszipliniert", sagt sie. Jeden Tag sitzt sie sieben, acht oder sogar zehn Stunden am Computer: "Ich schreibe die ganze Zeit, auch an den Wochenenden oder an Feiertagen."
Und dann ist da noch etwas, die Verbundenheit mit Deutschland - gerade wegen der Vergangenheit. "Ich habe zwei Heimatländer: Israel, wo ich geboren wurde, meine Familie habe und meine Sprache. Und Deutschland - meine geistige und kulturelle Heimat."
Sie erinnert sich, dass ihre Mutter oft Deutsch mit ihr gesprochen hat. Heute kommt es Lizzie Doron vor, als sei sie auch in Deutschland zu Hause. "Ich kann hier das Leben meiner Familie besser spüren."
Autorin: Cornelia Rabitz
Redaktion: Gabriela Schaaf
Das Buch:
Lizzie Doron: Das Schweigen meiner Mutter. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. München: DTV 2011. 320 S. 14,90 Euro. ISBN 978-3-423-24895-2