London: Weiter Streit um Abschiebeflüge nach Ruanda
17. März 2024Wenn es um Asylsuchende geht, redet sich der 91-jährige Lord Dubs leicht in Rage. "Beschämend" sei der Plan der britischen Regierung, Flüchtende nach Ruanda zu schicken, er schade dem guten Ruf Großbritanniens. Wie es sich anfühlt, Familie und Heimat hinter sich zu lassen, weiß Alfred Dubs, denn er selbst fuhr im Alter von sechs Jahren mit dem Kindertransport von Prag nach London, um dem Holocaust zu entkommen. Heute sitzt er für die oppositionelle Labour-Partei im Oberhaus, dem House of Lords, und setzt sich für Flüchtlinge ein.
Bisher haben sich die Lords geweigert, das sogenannte "Ruanda-Gesetz" zu verabschieden, und es damit verzögert. Unter anderem deshalb, weil es gegen internationales Recht verstoße. Doch schlussendlich werden sie nachgeben, schätzt Dubs, schließlich stellten die Konservativen auch im Oberhaus die größte Gruppe. Und der Kampfgeist der zumeist älteren Lords würde inzwischen schwächeln.
Tories verfolgen Ruanda-Plan schon seit Jahren
Premierminister Rishi Sunak hat es zur Priorität erklärt, "die Boote zu stoppen". Fast 30.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr zumeist in kleinen Schlauchbooten über den Ärmelkanal. Ihnen, und all den anderen Flüchtenden, die seit Anfang 2022 "irregulär" das Land erreicht haben, könnte bald die Abschiebung nach Ruanda drohen. Ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Prüfung ihres Asylantrages sollen sie in das ostafrikanische Land verfrachtet werden und dann dort statt in Großbritannien ihre Asylanträge stellen.
Boris Johnson hatte vor zwei Jahren als erster Premier ein Flugzeug chartern lassen, das eine kleine Gruppe Flüchtlinge nach Kigali bringen sollte - trotz heftiger Proteste vieler Menschenrechtsorganisationen. 140 Millionen Pfund haben die Briten bereits an Ruanda überwiesen, aber bisher hat noch kein einziger hiesiger Flüchtling ruandischen Boden betreten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte machte Johnson in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung. Auch das oberste britische Gericht erklärte den Plan zunächst für rechtswidrig, denn Ruanda sei kein sicheres Drittland. Hier hat die Regierung nachgebessert und ein neues Abkommen mit dem ostafrikanischen Land geschlossen, in dem der ruandische Staat versichert, niemanden in sein Herkunftsland abzuschieben.
Premierminister Sunak argumentiert, die Unterbringung von Flüchtlingen in britischen Hotels koste täglich sechs Millionen Pfund; von den Ruanda-Abschiebungen erhofft er sich eine abschreckende Wirkung. Wenn das Gesetz nicht durchkomme, würden noch mehr Menschen auf der gefährlichen Überfahrt ihr Leben verlieren, warnte der zuständige Minister Lord Sharpe seine Kollegen im Oberhaus. Die Lords sollten dem "Willen des Volkes" nicht entgegenstehen, appellierte Rishi Sunak - er glaubt, durch seine scharfe Asylpolitik bei einigen Wählern punkten zu können.
Abschreckende Wirkung unklar
Aber werden Schutzsuchende durch so ein Gesetz wirklich abschreckt? Die Meinungen gehen auseinander. Jacqueline McKenzie ist Menschenrechts-Anwältin in London, vertritt unter anderem einen Iraker, der nach Ruanda deportiert werden sollte, bevor das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Eilentscheidung verhinderte.
Der Mann saß bereits gefesselt im Bus auf dem Rollfeld, das Flugzeug im Blick. Für ihn sei das traumatisch gewesen, berichtet die Anwältin. Inzwischen habe er nachweisen können, dass er Opfer von Menschenhandel gewesen sei und nun dürfe er rechtmäßig in Großbritannien bleiben. An eine abschreckende Wirkung glaubt McKenzie nicht: "Wir reden doch schon seit Jahren über Ruanda - und die Leute kommen immer noch."
Nikolai Posner ist da nicht ganz so sicher. Er arbeitet für die französische Flüchtlingsorganisation Utopia 56 und ist immer wieder in der nordfranzösischen Hafenstadt Calais, in der viele Migranten ihre riskante Reise antreten. Als der Plan vor zwei Jahren das erste Mal bekannt geworden sei, habe es weniger Überfahrten gegeben, "bis die Schmuggler ihre Preise senkten" - das könnte auch jetzt wieder der Fall sein. Mit vielen anderen, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, verlangt auch er mehr sichere und legale Fluchtrouten.
Wer sich auf die gefährliche Reise von Frankreich an die südenglische Küste wagt, hat oft Familie in Großbritannien. Und die meisten haben einen Anspruch auf Asyl: Sie kommen aus Ländern, in denen Krieg oder Verfolgung an der Tagesordnung ist - aus dem Iran, Irak, aus Afghanistan - und die überwiegende Mehrheit der Anträge wurde bisher angenommen.
Sollte das Gesetz in den kommenden Tagen verabschiedet werden, bleiben weiterhin Unsicherheiten, wann die ersten Flüge nach Ruanda abheben könnten. Beamtenverbände fordern eine erneute rechtliche Klärung, weil die neuen Regelungen ihrer Meinung nach weiterhin gegen internationale Gesetze verstoßen. Auch die Anwältin McKenzie geht davon aus, dass weiterhin vor Gerichten gerungen wird.
Chefsache für Sunak
Doch Premierminister Sunak scheint entschlossen, die ersten Menschen so schnell wie möglich abzuschieben. Er hat das Thema Migration zur Chefsache erklärt - wenn es nach ihm geht, dann vergehen nur wenige Tage, bis der erste Flieger nach Kigali startet. Bei dem Gedanken laufen Lord Dubs Schauer über den Rücken: Schließlich sei Großbritannien eines der Gründungmitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, und Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention. Dass sein Heimatland, das ihn als Kind so großherzig aufgenommen hat, jetzt "so ein schlechtes Beispiel" abgebe, dagegen wird er weiterhin kämpfen, so gut er kann.