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PolitikNahost

Luna und die syrischen Folterer

23. Februar 2021

Beim weltweit ersten Prozess gegen das Foltersystem Assads sitzt Luna Watfa an jedem Tag im Saal. Sie war selbst Gefangene in den Kerkern der Geheimdienste. Am Mittwoch wird das erste Urteil erwartet.

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DW Illustration I Folterprozess Koblenz Luna sitzt mit verbundenen Augen in einem Auto, bewacht von einem Uniformierten
Gefangen, gefoltert, geflohen. In Koblenz begegnet Luna ihrer Vergangenheit Bild: DW

Mehr als 60 Tage hat Luna Watfa schon im Gericht zugebracht. Tage auf der Suche nach Antworten, nach Gerechtigkeit - und Tage schmerzlicher Erinnerung. "Ich erinnere mich daran, was mit mir passiert ist. Wenn ich die gleichen Details über die Folter von den Zeugen hören muss, dann ist das sehr schwierig für mich". Zum Beispiel, als ein Zeuge über schwere Misshandlungen durch einen Gefängniswärter sprach, der auch Luna gefoltert hat.

Als Luna Watfa an einem warmen Sonntag Mitte Februar über diese Dinge spricht, sitzt sie in ihrem kleinen Wohnzimmer in einem rechtsrheinischen Stadtteil von Koblenz. Sie erzählt von ihrem Leben in Syrien. Während der Revolution, die vor zehn Jahren ihre Heimat erfasste. Ihre Schilderungen stehen in merkwürdigem Kontrast zu dem in Sichtweite idyllisch dahinströmendem Rhein. Zum Beispiel, wenn sie von den elenden Haftbedingungen berichtet. Davon, dass sie mit bis zu 20 Frauen in einer höchstens 10 Quadratmeter großen Zelle eingepfercht gewesen sei.

DW Illustration I Folterprozess Koblenz
Rechtlos eingepfercht in einem fensterlosen Raum: Luna im GeheimdienstgefängnisBild: DW

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Am gegenüberliegenden Rheinufer liegt das Gerichtsgebäude, das die zweifache Mutter mittlerweile so gut kennt. Seit letztem April findet dort der weltweit erste Prozess gegen das syrische Foltersystem statt. Angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, müssen sich dort zwei ehemalige Mitglieder des syrischen Geheimdienstes verantworten. In dem Verfahren wird Rechtsgeschichte geschrieben: Es ist der weltweit erste Versuch, das brutale Unterdrückungssystem mit den Mitteln des Rechtsstaates auszuleuchten. Luna lässt sich nichts davon entgehen - keinen Tag, keinen Zeugen, keinen Experten, keinen Gutachter.

Koblenz Al-Khatib Prozess | Folterüberlebende Luna Watfa vor dem Gerichtsgebäude
Keinen Verhandlungstag verpasst: Luna Watfa vor dem Koblenzer GerichtBild: Matthias von Hein/DW

So wie den Mann, den Luna den "Totengräber" nennt. Der trat Anfang September auf, anonym aus Sorge um Familienangehörige in Syrien - weshalb er als Zeuge "Z 30/07/19" in den Prozess eingeführt wurde. Der frühere Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung von Damaskus berichtete, wie er vom Geheimdienst gezwungen wurde, mehrere Jahre bis zu seiner Flucht Leichen zu transportieren und in Massengräbern zu beerdigen. Mehrmals pro Woche, jedes Mal mehrere Hundert, viele mit Spuren schwerster Misshandlungen.

Oder als es um die sogenannten "Caesar-Fotos" ging: Ein syrischer Militärfotograf hatte zwei Jahre lang für die Todesbürokratie Bilder von getöteten Insassen der Gefängnisse machen müssen - und heimlich Kopien angefertigt. Die hat er außer Landes geschmuggelt - und auch der Bundesanwaltschaft übergeben. Der Kölner Rechtsmediziner Markus Rothschild hat zehntausende dieser Bilder von zu Tode gefolterten und gehungerten Menschen analysiert – und im Koblenzer Gerichtssaal Anfang November zwei Tage lang seine Ergebnisse vorgetragen. Nicht nur für Luna waren die vorgestellten Bilder und Erklärungen schwer erträglich.

Oder der Folter-Überlebende, mit dem Luna in einer Verhandlungspause gesprochen hat. "Er hat mir ein Video gezeigt, das nach seiner Freilassung im Krankenhaus aufgenommen worden war, mit all seinen Verletzungen. Das sah aus wie auf den Caesar-Fotos, aber er lebte noch".

Bürgerjournalistin, Gesuchte, Gefangene

Luna heißt eigentlich nicht Luna. Dass sie mit ihrer Familie jetzt in Koblenz lebt und nicht in ihrer Heimatstadt Damaskus, hat viel mit diesem Pseudonym zu tun, mit dem politischen Erwachen, das mit ihm verbunden ist – und der Reaktion des syrischen Sicherheitsapparates darauf.

Bis im März 2011 die ersten Demonstrationen gegen das Regime von Bashar al-Assad begannen, war Luna unpolitisch. "Ich hatte keine Ahnung, was los war im Land. Ich war weder für die Regierung noch gegen sie." Aber jetzt beginnt die studierte Juristin zu lesen: Bücher über die syrische Geschichte; Bücher in denen sie etwas über die Verbrechen des Assad-Klans erfährt; Bücher, die sie verstehen lassen, warum die Menschen auf die Straße gehen. Nach vier, fünf Monaten intensiver Lektüre schließt Luna sich den Demonstrationen an. Und sie engagiert sich bei der Unterstützung von Flüchtlingen, die aus anderen Landesteilen nach Damaskus kommen.

Auf Anregung eines Freundes wird Luna Bürgerjournalistin. Ein Jahr lang lernt sie online mit Hilfe der Organisation "Syrian Voices" das Journalistenhandwerk. Sie will dem Informationsmonopol des Regimes etwas entgegensetzen. Unter dem Pseudonym Luna startet sie Mitte 2013 ein Programm bei einem Online-Sender. "Das war über Tote, die in Damaskus gefunden wurden. Von denen aber niemand wusste, wer sie sind. Ich habe Informationen über diese Leute verbreitet. Und wenn Angehörige das hörten, konnten sie anrufen und sagen: Das ist mein Vater oder Sohn."

DW Illustration I Eine Hand gibt heimlich einen USB-Stick weiter. Im Hintergrund sieht man Fotos.
Brisantes Material: Luna hat die Opfer eines Chemiewaffenangriffs dokumentiertBild: DW

Endgültig auf das Radar der Sicherheitsbehörden gerät Luna in Zusammenhang mit dem Chemiewaffenangriff auf den Damaszener Vorort Ost-Ghouta im August 2013. In Zusammenarbeit mit Bekannten aus Ost-Ghouta beschließt Luna, dieses Massaker zu dokumentieren. "Wir haben viele Fotos aufgenommen und Videos. Ich habe selbst damit 800 Namen von Opfern dokumentiert."  Sie stellt das brisante Material der syrischen Opposition im Ausland zu Verfügung. "Das war auf einem USB-Stick." Fortan sucht der Geheimdienst nach Luna.

Mit verbundenen Augen verschleppt

Rund vier Monate später passiert es. Ende 2013 ist Luna in Damaskus unterwegs. Sie will Menschen helfen, die wegen des mittlerweile ausgebrochenen Bürgerkriegs aus anderen Städten nach Damaskus geflohen sind. Drei Autos fahren vor, über ein Dutzend Sicherheitsbeamte steigen aus. Einer fragt nach ihrem Namen, ihrem Ausweis. "Dann haben sie mich zu einem der Autos gebracht. Mit meinem Schal haben sie mir die Augen verbunden, damit ich nicht sehe, wo wir hinfahren. Sie haben mich zur Abteilung 40 gebracht. Das ist die Abteilung, in der Eyad A. lange gearbeitet hat."

Eyad A. ist einer der Angeklagten. Aber bei Lunas Verhaftung hat er schon desertiert und ist ins Ausland geflohen. Später kommt Luna ins Foltergefängnis Al-Khatib der sogenannten Abteilung 251, "Hölle auf Erden" genannt. Dort war der zweite Angeklagte, Anwar R., Vernehmungsleiter. Aber auch der hat zu dem Zeitpunkt Syrien längst verlassen. Deshalb ist Luna auch keine Zeugin in dem Prozess. Sie ist Beobachterin und sie berichtet über das Verfahren in arabischen Medien. 

Bei den stundenlangen Verhören leugnet Luna alle Vorwürfe. Die Geheimdienstler fahren mit ihr zur Durchsuchung ihrer Wohnung. Dort gibt ihr Laptop preis, dass sie Luna ist.

DW Illustration I Ein mit Sturmgewehr bewaffneter Uniformierter schaut auf einen Laptop auf einem Schreibtisch
Verräterischer Laptop: Lunas Pseudonym wird geknacktBild: DW

Psychoterror und die Angst um die Kinder

Jetzt wollen die Agenten die Namen ihrer Helfer. Sie sagt, es gab keine anderen, sie habe allein gearbeitet. "Dann sagte einer der Beamten: `Okay, du willst nicht kooperieren? Dann werden wir deinen Sohn und deine Tochter verhaften!´. Sie haben vor meinen Augen meinen Sohn genommen - und das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe". Zugleich hört sie Anweisungen über Funk, auch die Tochter in der Schule festzunehmen. "Von diesem Moment an habe ich meine Kinder nicht mehr gesehen. Aber bei allen Vernehmungen haben sie gedroht: `Sage uns, was wir wissen wollen, sonst holen wir deine Kinder und foltern sie vor deinen Augen´. Das war das Schlimmste. Nicht die Folter an mir, sondern die Sorgen um meine Kinder; ich wusste nicht, wo sie sind, ob sie vielleicht irgendwo in der gleichen Abteilung sind."

Ungefähr zwei Monate lang ist Luna Gefangene des Geheimdienstes, in drei verschiedenen Abteilungen. Dann wird sie in ein reguläres Gefängnis überführt. Dort darf sie zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen. Und erfährt: Der Geheimdienst hatte ein Psychoterror-Spiel inszeniert: Ihr Sohn war nur zum Schein abgeführt worden. Niemand war zur Schule ihrer Tochter gefahren.

Neue Heimat Koblenz

Als Luna nach insgesamt dreizehn Monaten Haft wieder auf freien Fuß kommt, rät ihr Anwalt ihr zur Flucht. Sie möchte bei ihren Kindern bleiben, aber der Druck ist so groß, dass Luna schließlich doch erst in die Türkei flieht. Von dort kommt sie über die Balkan-Route nach Deutschland. Etwas später fliehen auch ihre Kinder in die Türkei. Nachdem Luna als Asylantin anerkannt ist, kann sie im Rahmen des Familiennachzugs ihre Kinder nach Deutschland holen. Nach Koblenz, wo sie mittlerweile lebt.

Koblenz Al-Khatib Prozess | Luna Watfa an ihrem Schreibtisch in ihrer Wohnung in Koblenz
Nach Abschluss des Prozesses will Luna ein Buch über ihn schreibenBild: Matthias von Hein/DW

Ausgerechnet die 100.000-Einwohner-Stadt am Zusammenfluss von Rhein und Mosel wird zum Schauplatz des Verfahrens gegen Eyad A. und Arwan R.. Für Luna ist "der Prozess das erste Mal, dass wir die Möglichkeit haben, über unsere Erfahrungen zu sprechen. Das ist zwar nur ein kleiner Schritt Richtung Gerechtigkeit, aber er ist sehr wichtig!" Sie betont, wie sie als Journalistin trotz persönlicher Betroffenheit versucht, neutral zu bleiben, dass sie kein Vorurteil gegen die zwei Angeklagten hat. "Aber natürlich ist es sonderbar, sie die ganze Zeit zu sehen. Und dass wir als Überlebende jetzt in der starken Position sind; und sie, Anwar R. und Eyad A., sind die Angeklagten."

Dabei sei die Situation der Angeklagten mit der in Syrien überhaupt nicht vergleichbar, stellt Luna fest, während sie an einer Tasse mit schwarzem Tee nippt. Sie erinnert daran, wie vollkommen rechtlos sie selbst war. Und welche Rechte Anwar R. und Eyad A. in Deutschland in Anspruch nehmen können. Dabei ist Luna wichtig, eines festzuhalten: Dass sie sich in keinster Weise wünscht, dass die Angeklagten das gleiche erleben wie sie oder die aufgetretenen Zeugen. Kein Mensch solle so etwas erleben müssen.

Das erste Urteil in dem Prozess wird am Mittwoch (24. 2.) erwartet. Auch da wird Luna im Gerichtssaal sitzen.

 

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein