Malen gegen den Strich
2. November 2009Meist bedarf es einiger Umwege, um einer Berufung zu folgen. Hans-Hendrik Grimmling ist das fremd. Er hatte scheinbar schon immer einen Pinsel oder Zeichenstift in der Hand. Bereits mit 14 Jahren gründet er gemeinsam mit einem Freund ein eigenes Atelier in seiner Heimatstadt Zwenkau bei Leipzig.
Allerdings haben die beiden Jungs nicht wirklich Kunst im Kopf. Zwar malen sie vor sich hin, kopieren unter anderem Franz Marc und verkaufen sogar das eine oder andere Bild. Doch das Atelier, ein ehemaliges Ladengeschäft mit Schaufensterscheibe, ist für sie eher ein Ort der Freiheit. Hier wird getrunken und gefeiert, Liebespaaren leihen sie einen Zweitschlüssel gegen Bezahlung von einem Glas Bier. Die Bevölkerung meidet das Atelier. "Es fühlte sich sehr schön an", sagt Grimmling heute. "Wir haben uns so schon früh eine Sonderrolle geschaffen und versucht, uns von Strukturen zu befreien."
Der Soldat mit dem Malkoffer
Nach der Schule tritt Hans-Hendrik Grimmling jedoch erst einmal - wie fast alle jungen Männer in der DDR - den Dienst bei der Nationalen Volksarmee an. Es sei die schrecklichste Zeit seines Lebens gewesen, sagt Grimmling. Eine Zeit der Demütung und versteckten Tränen. Obwohl die jungen Soldaten fast alle Privatsachen bei Ausbildungsantritt abzugeben haben, darf Grimmling seinen Malkoffer behalten. Jeden Abend zieht er sich in eine Kammer, in der Dienstuniformen aufbewahrt werden, zurück. "Dort habe ich vor mich hingemalt, richtig gehend vor mich hingemalt, als Flucht, als Zärtlichkeit für mich selbst, als Rettung vor der Realität und so habe ich das auch irgendwie überlebt."
Nach dem Militärdienst gelingt es dem jungen Maler, in Leipzig an der renommiertesten Kunsthochschule der DDR angenommen zu werden. Eine befreiende Zeit: "In unserer Kantine gab es Schnaps. Wir waren die so genannten Wilden. Meine jetzige Frau war damals Fotografie-Studentin, und sie erinnert sich heute noch daran, wie sie mit ihren Freundinnen immer vor uns geflüchtet ist, wenn wir die Treppe hochstürmten, in Stiefeln, schwarzer Weste und langen Haaren." Doch diese "Wilden" feiern nicht nur, sie sind auch unglaublich produktiv, malen unermüdlich im hochschuleigenen Atelier.
"Völlig fremde Phantasie"
Grimmling liebt und lebt das Kunststudium. Nach der Grundausbildung bei Werner Tübke, einem der bekanntesten Maler der DDR, wird er gemeinsam mit fünf weiteren Studierenden in die Meisterklasse "Freie Kunst" bei Wolfgang Mattheuer aufgenommen - auch er ein wichtiger Vertreter der sogenannten "Leipziger Schule". Tübbe malt wuchtige, düstere Bilder: schwarz gekleidete Männer – betend in einem Grubenloch, Männer mit schwarzen Flügeln – herumstochernd in roten Leibern. In der Klasse von Mattheuer erlebt er künstlerische Freiheit.
Doch bei der Hochschulkommission fällt er kurz vor Ende des Studiums durch: Er habe eine "völlig fremde Phantasie", die Bilder seien anstößig und zeugten vom "Einfluss imperialistischer Dekadenz". Die Kunst habe sich der Arbeiterklasse zu verschreiben – davon sei in seinen Bildern nichts zu erkennen. Grimmling droht die Exmatrikulation. Es sei denn, er portraitiere für seine Abschlussarbeit zwei Bergbauarbeiter, sogenannte "Helden der Arbeit". "Und das hab ich gemacht. Ich hatte noch nicht diesen alternativen Pathos 'Leckt mich alle am Arsch'. Ich wollte die erste staatliche Anerkennung des Diploms."
Wochenlang fährt Grimmling um fünf Uhr morgens mit den Arbeitern in die Grube. Er liefert die geforderten Portraits und schließt sein Studium mit "sehr gut" ab. Es folgt die Aufnahme in den VBK – den Verband Bildender Künstler. Damit hat er seine Existenz vorerst gesichert. Denn als Verbandsmitglied sind ihm Auftragsarbeiten und Teilnahme am staatlichen Kunsthandel möglich. Grimmling fügt sich ein in ein ausgeklügeltes System, führt Auftragsarbeiten durch wie die "Produktivkraft Mensch in Wissenschaft und Forschung".
"Das Wort verdirbt die Wege"
Parallel dazu arbeitet er aber an seiner eigenen Vision, malt Vögel ohne Flügel oder in sich verknotete Leiber. Er organisiert sich mit anderen Künstlern, sucht Wege, testet Grenzen.
"Die Hand einigt den Teig
Das Wort verdirbt die Wege
Es ist der Entzug der Nahrung
Das allmähliche Aufbrauchen welches uns nährt."
Es sind nicht die an sich harmlosen Skulpturen aus Brotteig, welche die Zensoren auf den Plan rufen. Es ist eben jenes Gedicht, dass Hans-Hendrik Grimmling gemeinsam mit dem Künstlerfreund Olaf Wegewitz erklärend zu den Werken hinzufügt und 1980 an die Eingangstür einer Galerie hängt. "Das Wort verdirbt die Wege" – ist damit die Partei gemeint?
Einen Tag vor Ausstellungseröffnung hält ein Regierungswagen vor der Galerie. Ein Mann im eleganten Anzug verschwindet im Büro des Galeristen. Nur einige Minuten später verkündet dieser: Aus, Schluss, vorbei - die Ausstellung sei abgesagt, sie müssten alles wieder abbauen. Frustriert betrinken sich Grimmling und Wegewitz an diesem Abend. "Wir waren völlig gedemütigt, aber gleichzeitig spürten wir auch eine Art Genuss, sich anders definieren zu können, eben nicht zu 'denen' zu gehören."
Jenseits staatlicher Vorstellungskraft
Ein Jahr später wird erneut eine Ausstellung verboten. Aber Grimmling gibt nicht auf, sucht weiter nach Wegen, seine Bilder öffentlich auszustellen, ohne dass er sie in Hinterzimmern oder Kellern verstecken muss. Gemeinsam mit fünf weiteren Künstlern gelingt ihm schließlich ein Geniestreich: der "1. Leipziger Herbstsalon", die erste unzensierte Ausstellung in öffentlichen Räumen der DDR.
Die Aktion beginnt reichlich unspektakulär: Gemeinsam mit dem Malerfreund Günther Huniat fragt Grimmling 1984 beim Messeamt Leipzig an, ob sie Räumlichkeiten für eine Gruppenausstellung mieten dürften. Die Vermieter glauben, die Maler fragen im Auftrag des staatlichen Verbandes Bildender Künstler an. Dass sie eigenständig und als Privatpersonen handeln, liegt jenseits der Vorstellungskraft. Der Mietvertrag wird unterzeichnet.
Feindlich-negativer Personenkreis
Doch die Staatssicherheit bekommt Wind von dem Vorhaben. In der Stasi-Akte Grimmlings ist später zu lesen: "Nach Ansicht des IM handelt es sich bei dem negativen Personenkreis von bildenden Künstlern wiederholt um einen Versuch, mit ihren negativ-feindlichen Kunstauffassungen eine Öffentlichkeitswirksamkeit zu erreichen."
Es wird eine Krisensitzung eingeleitet, eine Schließung der Ausstellung erwogen. Doch würde ein Verbot nicht eher zu mehr Aufregung und damit auch zu mehr Aufmerksamkeit führen? So wird die Gruppenausstellung der Maler Grimmling, Huniat, Dammbeck, Firit, Heinze und Wegewitz zugelassen.
Trotz der Auflage, dass täglich nur sechs Besucher den "1. Leipziger Herbstsalon" sehen dürfen, kommen in den vier Wochen über 10.000. Im Gästebuch lesen Grimmling und seine Malerfreunde: "Die Zugluft des Salons ist aufregend wie ein Wind vom Weltmeer. Ich bin erfrischt." - "Es ist leider nur ein Tropfen in der Wüste, aber vielleicht kann eine Oase daraus werden." - "Die Ausstellung ist mutig und macht Mut."
"Grimmling ist nicht rückwinnbar"
Der Herbstsalon wird ein kulturpolitischer Erfolg. Und gleichzeitig eine Niederlage für Grimmling. Ihm ist klar, dass die Staatssicherheit eine Neuauflage des Herbstsalons niemals wieder zulassen wird: "Nach dieser Ausstellung war eine tiefe Traurigkeit in mir. Was soll jetzt kommen?" Hans-Hendrik Grimmling fasst einen Entschluss, der ihn selbst überrascht: er stellt einen Ausreiseantrag.
In seiner Stasi-Akte ist nachzulesen: "Grimmling hat sich von der sozialistisch-realistischen Kunst abgewandt. Er gehört zu einem Künstlerkreis, der seit ca. 10 Jahren versucht, die Kulturpolitik der DDR kontinuierlich zu unterlaufen. Trotz zahlreicher Versuche, den Grimmling im Verband Bildender Künstler und der Gesellschaft zu integrieren kam es zum Übersiedlungsersuch. In allen mit Grimmling geführten Aussprachen kam deutlich zum Ausdruck, dass Grimmling nicht rückwinnbar ist."
Mit anderen Worten: Die Stasi ist froh, Grimmling loszuwerden. Dem Ausreiseantrag wird in ungewöhnlich kurzer Zeit stattgegeben. 1986 reist der Maler mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter nach West-Berlin aus. Zunächst wohnt die Familie bei einer Freundin in Berlin-Steglitz. Grimmling schafft sich ein Atelier inmitten von Tauben, unter dem Dach des Mietshauses. Er malt mit geringen Materialien und auf Packpapier aus dem Baumarkt. Über Bekannte und Freunde im Westen verkauft er schließlich auch einige seiner Leipziger Bilder.
"Mischt Euch ein!"
Nach und nach fasst Grimmling Fuß, bezieht ein eigenes Atelier und bietet ab 1988 auch Malkurse an. Eine erlösende Erfahrung. Hatte er nach seiner Ausreise jeden Tag - wie er sagt - als eine "Überstülpung" erlebt, geben ihm seine Schüler eine neue, kreative Energie.
Eine Erfahrung, von der er Jahre später noch profitiert. So arbeitet er seit 2001 zunächst als Dozent, später als Professor an der privaten Berliner Technischen Kunsthochschule. Der Kampf mit der Zensur und gegen das offizielle Kunstverständnis hat ihn sehr geprägt. Deswegen schult er, seine Studenten nicht nur in Malerei: "Hin und wieder versuche ich ihnen zu erklären, dass es nicht nur sinnvoll ist, sondern auch Freude machen kann, sich in Prozesse einzumischen, von denen man das Gefühl hat, dass sie manipuliert sind. Und davon gibt es selbst nach der Wende noch genug."
Literatur-Empfehlung:
Hans-Hendrik Grimmling, Die Umerziehung der Vögel, Einmalerleben, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2008.
Autorin: Nadine Wójcik
Redaktion: Ramón Garcia-Ziemsen/Martin Muno