Marseilles Erneuerung
8. Januar 2013Neun Uhr morgens am Vieux-Port, dem alten Hafen von Marseille. Dort, wo sonst jeden Morgen die Fischer ihren Fang verkaufen, versperren Metallzäune den Blick auf das rechteckige Hafenbecken. Der Lärm von Presslufthämmern und Baggern dröhnt in der Luft. Die Zeit drängt, denn bald, am 12. Januar, fällt der Startschuss für die Kulturhauptstadt Europas. Und dann werden neben Marseille mehr als 97 Städte und Dörfer aus der Region mit spektakulären Ausstellungen und Aufführungen glänzen wollen.
Für dieses Ereignis soll dann der alte Hafen, wo 600 Jahre vor Christi Geburt die Griechen festmachten und "Massalia" gründeten, eine verkehrsberuhigte Zone sein. Dazu wird die einst sechsspurige Straße, die um das Hafenbecken herumführt, auf ein paar Fahrbahnen verkleinert und die Kaistraße in einen großen Platz für Fußgänger und Veranstaltungen verwandelt, mit einem großflächigen Sonnendach. "Das ist der Fortschritt", seufzt die 82-jährige Fischverkäuferin Nana. Die Frau mit den kurzen grauen Haaren und dem von der Sonne gegerbten Gesicht befürchtet, dass mit der Renovierung Marseilles der traditionelle Fischmarkt langsam aussterben wird.
Größtes Städtebauprojekt Europas
Eine Viertelstunde Fußweg nördlich vom Vieux-Port, dem gefühlten Herzen der Stadt, ragen unzählige Baukräne in den Himmel. Sie markieren das Gebiet des größten Städtebauprojekts Europas mit dem Namen "Euroméditerranée". Auf 480 Hektar entstehen rund um das ehemalige Hafengelände mit Milliardenaufwand Bürotürme, Luxushotels und Wohnanlagen. "Wir bauen eine neue Stadt auf der Stadt", erklärt der Präsident von Euroméditerranée Guy Tessier. "Dieses alte Hafenviertel hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte seine Aktivitäten eingebüßt und ist immer weiter verarmt, mit Wohnungen, die in einem sehr schlechten Zustand sind. Dieser Teil der Stadt wird seit zwölf Jahren komplett neu erschaffen."
In einer der ärmsten Städte Frankreichs, wo fast 13 Prozent der Einwohner arbeitslos sind und nur etwas mehr als die Hälfte aller Haushalte Steuern zahlen, soll die groß angelegte Stadtsanierung vor allem Marseilles Wirtschaft ankurbeln. Statistiken zufolge sind durch das Bauvorhaben bereits 20.000 Arbeitsplätze entstanden, erklärt Guy Tessier. "Wir wollen eine große Metropole am Mittelmeer schaffen und zeigen, dass Marseille eine ehrgeizige und fleißige Stadt ist, in der man gut leben kann."
Stararchitektur statt Lagerschuppen
Auch im Bereich der Architektur möchte Marseille glänzen. Stararchitekten aus der ganzen Welt entwerfen Museen, Wolkenkratzer und Büroanlagen für die zweitgrößte Stadt Frankreichs. Dort wo einst schäbige Lagerschuppen den Blick aufs Mittelmeer versperrten, soll eine moderne Skyline aus glänzenden Bürotürmen entstehen, mit einer fast zwei Kilometer langen Flaniermeile am Meer entlang, einem großen Einkaufszentrum mit Restaurants, Kinos und einem lebendigen Geschäftsviertel. "Eines der Hauptziele von Euroméditeranée ist es, das Stadtzentrum, das sich bisher um den alten Hafen herum auf wenige Straßen beschränkte, zum Norden hin auszudehnen und zu verlagern", sagt Euroméditerranée-Sprecher Anthony Abihssira. Es gehe darum, das Stadtzentrum für die Bewohner und Touristen attraktiver zu machen und gleichzeitig damit einen wirtschaftlichen Mittelpunkt der Region rund um Marseille zu schaffen.
Anthony Abihssira zeigt auf ein Miniaturmodell vom kernsanierten Marseille und zählt einige der Bauvorhaben auf, von denen viele auch anlässlich der Kulturhauptstadt Europas realisiert werden oder bereits fertig sind: das große Museum für Mittelmeerzivilisationen "MuCEM", "Le Silo", ein alter Getreidespeicher, der nun Konzertsaal und Konferenzräume beherbergt oder das alternative Medien- und Kulturzentrum "La Friche-La Belle de Mai", eine ehemalige Tabakfabrik. Aber auch ein Krankenhaus, eine Universität, Schulen und Wohnungen gehören zu den Bauvorhaben von Euroméditerranée.
Vom Armen-Viertel zum Vorzeigeobjekt
Im ehemaligen Hafenareal wohnten bisher vor allem die benachteiligten Schichten von Marseille, wie alleinerziehende Familien und Einwanderer nordafrikanischer Herkunft. Die Gebäude und Wohnungen sind teilweise so heruntergekommen, dass sie komplett abgerissen werden müssen. Wo möglich, wird renoviert. Doch naturgemäß treibt das auch die Mieten in die Höhe, so dass einige Bewohner in andere Viertel ausweichen müssen. Abouatil Nouredile vom Verein "Un centre ville pour tous" bemängelt, dass es keinen transparenten Plan über die Umquartierung der Bewohner in diesem Areal gebe und es einigen Missbrauch von Immobilienmaklern gegeben hätte. Euromediterranée-Sprecher Anthony Abihssira hält dem entgegen, dass die Umquartierung größtenteils nach den bestehenden Regeln erfolgt und explizit für die ärmere Bevölkerungsschicht Sozialwohnungen geschaffen werden.
Ein älteres Paar steht vor dem Miniaturmodell und bestaunt die futuristische Kulisse des neuen Marseille. "Es ist sehr spannend, diese Modernisierung zu verfolgen, und man sieht im Alltag schon erste Erfolge, wie bei der neuen Einkaufsstraße Rue de la République, die gut besucht wird." Ihr Mann wünscht sich vor allem, dass die Stadt ihrem bodenständigen Charakter treu bleibt und nicht zu einer Glamour-Stadt wie Saint-Tropez an der Côte d'Azur wird. Wie dieses Paar scheinen sich viele Marseiller über die Stadterneuerung zu freuen: "Das Spazierengehen und auch das Leben wird angenehmer sein und Marseille seinen Charme wieder zurückgeben", finden zwei junge Frauen. Das Facelifting bringe Marseille vorwärts und das habe die Stadt dringend nötig, auch um sauberer und schöner zu werden, so der Tenor. Einige Marseiller befürchten aber auch, dass durch die neuen Bürotürme und modernen Museen ein Teil des Charakters der Stadt verloren geht. Alle warten sehnsüchtig auf das Ende von Euroméditerranée, denn durch die vielen Baustellen gibt es in der ohnehin schon verstopften Stadt noch mehr Staus und Umleitungen.
Kriminelle Szene in direkter Nachbarschaft
Nur einen Katzensprung von den Baustellen des neuen Hafenviertels entfernt liegt das Sozialbauviertel "Felix-Pyat". Weiße Betonblöcke mit bis zu 20 Etagen und Graffitis an den Wänden ragen steil in den dunkelblauen Himmel. Ein starker Wind wirbelt Plastiktüten und Müll durch die leeren Straßen. Der 14-jährige Komore Karim guckt auf den Silber glänzenden Büroturm des Schifffahrts- und Logistikunternehmens CMA CGM, der sich hinter einem verlassenen Industriegebiet wie eine Fata Morgana 145 Meter in die Höhe streckt. Zu Fuß ist es eine viertel Stunde bis dahin, doch für Karim ist es eine andere Welt, die weit weg ist von seinem Alltag im Hochhausviertel.
Nur selten verlässt er die Grenzen seiner "cité" und bleibt oft allein zu Hause, um nicht in das Drogenmilieu hineinzugeraten. "All meine alten Freunde aus dem Viertel sind dort eingestiegen", erzählt er. "Einer meiner Kumpel hat das mal ausprobiert - und ist jetzt immer da. Der wird ganz verrückt, vom Rauchen, Stehlen von Handtaschen und Verkaufen." Die cité "Felix Pyat" liegt in einem der ärmsten Viertel von Marseille. Hier wohnen vor allem Nordafrikaner, Komoren und Auswanderer von der Insel Mayotte. Jeder zweite Jugendliche hier ist arbeitslos.
Franzosen sind weggezogen
Die 34-jährige Komorin Noro ist in diesem Sozialbauviertel aufgewachsen und bedauert, wie sich dieser Ort in den vergangenen Jahren verändert hat. "Das Viertel ist ein Ghetto geworden", seufzt sie. Als sie in Felix Pyat zur Schule ging, hätte es in ihrer Klasse neben den Komoren und Algeriern auch Franzosen gegeben. Heute seien die Einwandererfamilien nur noch unter sich, ohne Visionen für die Zukunft. "Mit dem Fahrstuhl, der nicht funktioniert, mit der Mutter die hier und da putzen geht, dem Vater, der keine Arbeit findet."
Ihr Freund Rachidi nickt und erzählt von seiner Tochter, die seit ihrem Abitur arbeitslos ist. Und von den anderen Jugendlichen, die trotz Studium arbeitslos sind. Es reiche zu sagen, dass man von der cité "Felix Pyat" kommt, um abgelehnt zu werden. Noro sagt, es tue ihr im Herzen weh, "die Kinder zwischen den Hochhausblöcken herumhängen zu sehen, um die Drogendealer vor der Polizei zu warnen und ihr Leben für ein paar Hundert Euro zu riskieren".
Drogenhandel gehört zum Alltag
So wie diese Jungen, die in der Mitte zweier Häuserblocks in einem kleinen dunkelblauen Auto die Drogengeschäfte abwickeln. Das Auto ist bis auf den letzten Platz mit Jugendlichen besetzt. Ein 19-jähriger Nordafrikaner kurbelt die Scheibe runter. "Das ist kein ordentliches Leben", sagt er. "Wir haben alle Lust zu arbeiten, aber es gibt keine Jobs." Sein Freund neben ihm wirft ein, dass die Jugendlichen hier im Schlamassel stecken und wünscht sich, dass es hier mehr Angebote für sie gibt und sich jemand um sie kümmert.
Ein Joint macht die Runde. Dass sie in den Drogenhandel verstrickt sind, wollen die Jugendlichen aber nicht zugeben. Es sei ein sehr gefährliches Milieu, und alle im Viertel hätten Angst vor einer Kugel, die sich verirre. "So rüsten wir uns aus und beten. Die Kalaschnikow ist sehr in Mode", erzählen die Jugendlichen. "Wenn du da drin bist, lebst du meist nicht lange. Wenn es schlecht läuft, wirst du getötet. Und wenn es gut läuft, ist es das Paradies." Denn allein der sogenannte "guetteur", der die Drogenhändler vor der Polizei warnt, verdient am Tag mindestens 100 Euro. Diejenigen, die die Drogen bei sich zu Hause verstecken, kommen auf bis zu 5000 Euro im Monat, und der Chef eines Drogennetzes kommt auf das Doppelte.
Zusätzliche Polizisten nach Marseille
Der Gewerkschaftsleiter der Polizei, Alphonse Giovannini, verfolgt die Drogenszene in Marseille seit mehr als zwanzig Jahren und findet, dass in Marseille nicht hart genug durchgegriffen wurde. So habe sich der Drogenhandel in den Hochhaussiedlungen ausgeweitet und zu ständigen Bandenkriegen geführt. "Um sich den lukrativen Drogenmarkt zu sichern, sind die Drogenhändler zu allem bereit. Es gibt keine Regeln mehr, allein das schnelle Geld zählt", erklärt Giovannini.
Als Hafenstadt, in der zudem die Hochhaussiedlungen mitten in der Stadt liegen, sei der Drogenhandel besonders schwer zu kontrollieren, meint der Gewerkschaftsleiter der Polizei. Er ist gespannt auf den angekündigten "globalen Aktionsplan" der neuen Regierung. Der Innenminister Manuel Valls hat versprochen, das Problem auf den verschiedensten Ebenen wie Erziehung, Arbeit und Unterkunft in Angriff zu nehmen und hat Anfang November 200 zusätzliche Polizisten und Gendarmen nach Marseille geschickt.
Kulturveranstaltungen als Ventil
Die Komorin Noro hat schon längst ihren eigenen Weg gefunden, um die Jugendlichen aus ihrem Viertel auf den rechten Weg zu bringen. Mitten in einem der Häuserblocks von Felix Pyat hat sie eine Wohnung gemietet, für ihren Verein "Pepse". Darin möchte sie den Jugendlichen aus den cités dabei helfen, eine Arbeit zu finden. "Mit kulturellen Aktionen wie Tanz, Musik und Sport ziehe ich sie an, weil das oft das einzige Ventil für sie ist, um ihr Unwohlsein in der cité auszudrücken. Und es gibt viele, die im Drogenmilieu feststecken und da raus wollen."
Marseille, eine Stadt im Umbruch. Die zweitgrößte und älteste Stadt im Land arbeitet an ihrem Image und ihren Problemen und so wird das einstige Stiefkind Frankreichs, die rebellische Stadt im Süden, hoffentlich bald mit besseren Schlagzeilen von sich Reden machen.