Massenklage gegen VW: Es geht los
30. September 2019Es ist ein sperriges Wortungetüm, aber für hunderttausende VW-Dieselbesitzer ist es so etwas wie die letzte Hoffnung: die Musterfeststellungsklage. Das Oberlandesgericht (OLG) im niedersächsischen Braunschweig wird sich von diesem Montag an als erstes Gericht in Deutschland in mündlicher Verhandlung mit einer solchen Musterfeststellungsklage befassen. Erst im November 2018 vor dem Hintergrund des Dieselskandals geschaffen, wollen Verbraucher mit Hilfe dieser Klageform nun gegen den VW-Konzern vorgehen, der sie im Skandal um die Abgaswerte der Autos ihrer Ansicht nach erst betrogen und schließlich, als es um die Folgen ging, hat abblitzen lassen. Zwar beschäftigen sich seit 2015 deutschlandweit Gerichte mit Dieselverfahren, die meist unzulässige Abschalteinrichtungen zum Gegenstand haben. In den Verfahren geht es um haftungsrechtliche Fragen der Autohersteller und um monetäre Ansprüche, die einzelne klagende Verbraucher eventuell haben.
Ein Musterkläger steht für hunderttausende Einzelne
Bei der Musterfeststellungsklage (MFK) dagegen geht es um etwas anderes. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein Verfahren des sogenannten kollektiven Rechtsschutzes. Damit soll - vereinfacht erklärt - festgestellt werden, ob überhaupt Voraussetzungen vorliegen, die einen Anspruch etwa auf Schadenersatz begründen. Kollektiv ist es, weil es um die Interessen vieler Einzelner geht, die von einem gemeinsamen Vertreter geltend gemacht werden. In diesem Fall zieht der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) mit dem Automobilclub ADAC vor Gericht und vertritt die Interessen dieser zahlreichen Dritten. Der vzbv ist Musterkläger und gilt als sogenannte qualifizierte Einrichtung, die bestimmte Voraussetzung erfüllen muss. Selbst verfolgt er keine Ansprüche. Der Verband handelt ausschließlich im Drittinteresse für die Verbraucher, die sich dem Prozess angeschlossen haben. Gewinn aus dem Prozess darf ein Musterkläger grundsätzlich nicht erzielen. Damit soll eine Art "Prozessindustrie" verhindert werden, bei der sich professionelle Kläger nur einmischen, um Geld zu verdienen.
Dabei ist die Klage eine Art Vorstufe zu den eigentlichen Schadenersatzansprüchen jedes einzelnen: Die Verbraucherschützer können bei der MFK etwa feststellen lassen, ob VW seine Kunden im Dieselskandal "vorsätzlich und sittenwidrig" geschädigt hat, wie es juristisch heißt - und ob deswegen ein Anspruch auf Schadenersatz grundsätzlich bestehen würde. Folgt das OLG dieser Ansicht, müssen VW-Kunden danach trotzdem selbst aktiv werden, um ihre jeweiligen Ansprüche einklagen zu können. Eine konkrete Summe für jeden einzelnen lässt sich mit der Musterfeststellungsklage nicht erreichen. Die Kläger, die ihre individuellen Ansprüche durchsetzen wollen, können sich aber auf das Ergebnis aus dem Musterverfahren berufen. Einen langen Atem sollte man dennoch haben, bis man womöglich irgendwann Erfolg hat.
Musterklage soll auch zukünftigen Rechtsbrüche vorbeugen
Die Sammelklage dient also als eine Art Wegbereiter, gerade weil in Deutschland der Grundsatz des individuellen Rechtsschutzes gilt. Danach müssen Betroffene ihr Recht selbst verfolgen. Problem: Das macht nicht jeder, der es könnte. Denn viele Menschen scheuen oftmals den Gang vor ein Gericht - mangels Geldes, mangels Erfahrung, weil sie keinen Anwalt an ihrer Seite oder Angst vor einem langwierigen Prozess haben. Folglich bekommen sie nicht, was ihnen zusteht. Die Musterfeststellungsklage soll solche Defizite ausgleichen. Der Beitritt ist für den einzelnen Verbraucher kostenlos, er braucht keinen Anwalt und keine Rechtsschutzversicherung. Zudem erreicht er damit, dass seine möglichen Ansprüche nicht verjähren.
Allerdings hat der Beitretende keine Beteiligungsrechte in dem Verfahren. Das heißt, dass etwa seine Berechtigung, also die Frage, ob er überhaupt von den Feststellungszielen der Klage betroffen ist, nicht geprüft wird. Dennoch sehen manche Juristen in der MFK ein wichtiges Instrument für Verbraucher, das besonders bei mutmaßlich massenhaftem Rechtsbruch hilfreich sein könne - also dort, wo es viele Geschädigte gibt, deren jeweiliger Schaden aber vergleichsweise gering ist. Besonders in solchen Fällen nämlich würden zahlreiche Verbraucher darauf verzichten, zu klagen, wie Gundula Fehns-Böer, Sprecherin des OLG Frankfurt/Main weiß. Die dortigen Zivilsenate beschäftigt sich immer wieder mit Dieselklagen. Daher führt Fehns-Böer ein weiteres Problem an, das sich ergibt, wenn einzelne Betroffene eben nicht klagen: "Der Rechtsbruch bleibt dann häufig sanktionslos." Womöglich kann das dazu führen, das Unternehmen darauf spekulieren, dass sich niemand gegen sie stellt und Rechtsbrüche wissentlich begehen oder in Kauf nehmen. "Die Feststellungsklage soll auch zukünftigen Rechtsbrüchen vorbeugen", so Fehns-Böer.
Als Ergebnis einer MFK kann - neben der Feststellung, dass ein Anspruch besteht oder eben nicht besteht - auch ein Vergleich herauskommen. Daran sind etwa die Verbraucherschützer im Fall der VW-Klage eigenen Angaben nach nicht abgeneigt. Denn auch dadurch könnten Verbraucher letztlich zu Geld kommen. Klagegegner VW sieht die Sache naturgemäß anders. Einen Vergleich lehnt der Konzern eigenen Angaben zufolge ab. Er wolle das Gericht mit Argumenten überzeugen. In einigen der bisherigen Einzelverfahren ist VW von Landgerichten und Oberlandesgerichten zwar zur Rückabwicklung von Käufen manipulierter Diesel verurteilt worden. Dennoch deutet der Konzern an, die aktuellen Verfahren könnten bis 2023 dauern. Eben so lange, bis alle möglichen Rechtswege ausgeschöpft sind. Denn gegen Urteile eines OLG ist Revision zulässig, die Beteiligten, also beide Seiten, können gegen die Entscheidung vorgehen.
Ergebnis gilt für alle Beteiligten
Wenn eine Entscheidung aber Rechtskraft erlangt hat, ist sie bindend. Das gilt dann auch für all jene Dieselbesitzer, die sich dem Kollektiv angeschlossen haben. Sollten also die Verbraucherschützer eine Niederlage erleiden, wären damit auch die rechtlichen Möglichkeiten jedes Einzelnen erschöpft. Danach auf dem individuellen Weg einen Schadensersatz durchzusetzen, wäre für all jene, die dem Kollektiv beigetreten sind, nicht mehr möglich. Umgekehrt besteht für VW das Risiko, im Anschluss an das Braunschweiger Verfahren einer großen Zahl von Schadensersatzansprüchen gegenüber zu stehen. Daran, dass der Konzern begonnen habe, die Anzahl der Kläger herunterzurechnen, wollen Branchenexperten erkannt haben, dass sich VW doch schon mit der Möglichkeit eines Vergleichs befasse, wie es heißt.
Bei den vor dem OLG Frankfurt/Main anhängigen Dieselverfahren haben sich nach Angaben von dessen Sprecherin die Beteiligten bislang auch meist außergerichtlich geeinigt und die Klage oder Berufung gegen ein vorinstanzliches Urteil zurückgezogen. Inzwischen jedoch werde häufiger verhandelt - besonders, wenn es um Dieselfahrzeuge geht, die in den Jahren 2015 und 2016 gekauft wurden. Just erging wenige Tage vor dem Beginn der Verhandlung in Braunschweig nun ein möglicherweise richtungsweisender Beschluss am OLG Frankfurt: VW hafte demnach "dem Grunde nach" Käufern von Fahrzeugen, die mit dem betroffenen Diesel-Aggregat EA 189 ausgestattet sind, aus "vorsätzlich sittenwidriger Schädigung" im Zusammenhang mit dem Abgasskandal. Sprich: In diesem konkreten Fall hätte der Käufer damit das Recht auf Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückgabe des Fahrzeuges. (Az. 17 U 45/19)
Nur für Käufer spezieller Fahrzeugtypen
Bei der Klage, die in Braunschweig verhandelt werden soll, sind nur Käufer spezieller Fahrzeuge angesprochen. Es geht um Autos der Marken VW, Audi, Seat und Skoda, bei denen Dieselmotoren eben jenes Typs EA 189 verbaut sind. Diese sind mit einer illegalen Abschaltvorrichtung versehen und zurückgerufen worden. Nach Angaben des Bundesamts für Justiz sind bis Mitte dieses Monats rund 446.000 Verbraucher der MFK beigetreten, indem sie sich in ein Klageregister eingetragen haben. Noch bis Prozessbeginn können mutmaßlich Geschädigte dazukommen. Der vzbv bietet eine Checkliste, anhand derer sich prüfen lässt, ob ein Fall zur MFK passt.
Doch nicht nur, weil es die erste Klage dieser Art ist, die in Deutschland verhandelt wird, dürfte es voll werden in Braunschweig. Um sämtlichen Anwälten und anderen Beteiligten, ferner mutmaßlich Geschädigten, Zuschauern und Journalisten Platz bieten zu könne, wird in der Stadthalle verhandelt. Für den November ist bereits ein weiterer Termin anberaumt. Wann eine Entscheidung ergeht, ist aber noch offen.