Max Frisch 100
13. Mai 2011Das Valle Onsernone um sieben Uhr morgens. Der erste Postbus fährt das Tal hinauf. Es ist diesig. Der Nebel hängt noch am Berg fest. Auf der einzigen schmalen Hauptstraße drängen sich Pkws und Lastwagen. In der Mitte des Tales liegt das kleine Dörflein Berzona: ein Ort, den die boomende Tourismuswelle noch nicht überspült hat. Vielleicht seiner Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit wegen hat diese imposante karge Landschaft immer wieder Künstler angelockt. Max Frisch hat hier zeitweise gelebt. An der Friedhofsmauer findet sich eine kleine Gedenktafel, die an den Ehrenbürger erinnert.
Die "großen Drei"
Manches hat Frisch über das Tal in seinem Tagebuch notiert, über sein Haus am Rand des Ortes und über seine Nachbarn, den Schriftsteller Alfred Andersch und den Historiker Golo Mann, Sohn von Thomas Mann, die hier auch einen Ort für ihre Arbeit fanden. Manches über das Dichterdorf findet sich in Frischs Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" wieder. Heute wandern Touristen mit dem Buch in der Hand durch Berzona. Auf der Suche nach dem türkisblauen Swimmingpool der Familie Frisch oder dem Passweg ins Nachbartal, wie die Hauptfigur Herr Gaiser.
Marta Regazzoni, Inhaberin eines kleinen Gemischtwarenladens, kannte Andersch, Frisch und Mann noch persönlich. Auf engstem Raum konnte man bei ihr alles Lebensnotwendige kaufen: Milch, Salz, Backpulver, Zwiebeln und Wein. Hier gingen die "großen Drei" ein und aus. Auf ein Schwätzchen oder wenn sie etwas zum Frühstück oder zum Wandern brauchten. Darüber kann Marta übrigens nur den Kopf schütteln: zum Vergnügen die steilen Alpwege hochsteigen! Um die Einsamkeit und Stille zu genießen! Für die über 80-Jährige bedeuteten die Berge zeitlebens vor allem Mühe und Arbeit.
"Das Bergnest heißt Berzona"
Vielleicht seiner Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit wegen hat diese karge Berglandschaft immer wieder Fremde angelockt. Romanciers und Revolutionäre, Aussteiger und Asylsuchende. Anfang des vorigen Jahrhunderts waren es vor allem Künstler, die das Tal für sich als unberührten Ort entdeckten. Um hier den Erholungsurlaub zu verbringen, zu studieren oder schöpferisch tätig zu sein. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg suchten der Maler und Bildhauer Max Ernst und der Journalist und Autor Kurt Tucholsky im Valle Onsernone Zuflucht. Und es kamen die Schriftsteller Ernst Toller und Elias Canetti. Eine kleine, deutschsprachige Kolonie von Intellektuellen hat hier gelebt. Selbstbezogen und allein um ihr geistiges Wohl besorgt, so erinnern sich manche Einheimische an die einstigen Gäste.
Golo Mann arbeitete in Berzona an seiner bahnbrechenden Biografie über den berühmten Feldherrn Wallenstein, der bereits Friedrich Schiller als Dramenheld erkoren hatte. Hoch oben auf dem Berg, mit Blick weit in das Tal hinein, saß Golo Mann abseits auf seinem Adlerhorst, dem Mataruk. Die Enge der Steinhäuser, die Gespräche der Nachbarn, das Geschrei der Kinder auf der kleinen Piazza – all das wollte der Autor nicht hören. Ein Fremder in einer fremden Welt. "Jeder hat der drei seine eigene Beziehung zu den Einheimischen aufgebaut“, sagt Annette Korolnik-Andersch, Künstlerin und Tochter des Schriftstellers Alfred Andersch. Golo habe als Sohn von Thomas Mann eine besondere Stellung gehabt, "denn wer Thomas Mann war, das hat man selbst in Berzona gewusst.“
Alfred und Gisela Andersch hingegen siedelten sich mitten im Dorf an, in einer alten Seifenfabrik, die sie in ein modernes Gebäude verwandelten. Oder, wie es bis heute unter den Einheimischen heißt, 'verschandelten': "Dagegen ist nichts zu machen", schrieb Andersch, "wir haben uns damit abgefunden, dass wir unter Begriffen wie Millionäre und Steuervorteile subsumiert werden." Enttäuscht vom konservativen Klima unter Bundeskanzler Konrad Adenauer war Andersch mit seiner Familie 1958 in die Schweiz übergesiedelt: "Die landschaftliche Lage ist völlig einzigartig. Das Bergnest heißt Berzona."
Ob sie die Bücher ihrer berühmten Kunden gelesen habe, frage ich Marta? Nicht viele, antwortet sie, sie habe kaum Zeit zum Lesen. "Der Mensch erscheint im Holozän" von Frisch schon, da habe sie allerdings nicht so viel verstanden, lacht sie laut und herzlich. Doch alles sei vergangen und gehöre der Vergangenheit an - "Tutte storie passate".
Autor: Michael Marek
Redaktion: Gabriela Schaaf
Buchtipps:
Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1979.
Max Frisch: Tagebuch 1966-1977, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1968-1975, Band VI. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976.