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"Athleten fordern Einhaltung der Menschenrechte"

30. Juni 2020

Weltweit erhöhen Athleten den Druck, die umstrittene Regel 50 der Olympischen Charta abzuschaffen. Athletensprecher Max Hartung sagt im DW-Interview, warum sich Sportler gegen den Maulkorb zu politischen Fragen wehren.

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Fechter Max Hartung Verein Athleten Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/G. Kirchner

"Sportler werden nicht länger zum Schweigen gebracht", hieß es in einem offenen Brief, den der Athletenbeirat des "Teams USA" an das Internationale Olympische und Paralympische Komitee (IOC und ICP) geschickt haben: "Wir stehen am Scheideweg. Das IOC und das IPC können den Weg der Bestrafung oder des Ausschlusses von Athleten, die sich für das einsetzen, woran sie glauben, nicht fortsetzen." Es geht um die umstrittene Regel 50 der Olympischen Charta, die Sportlern bei Olympischen Spielen einen Maulkorb zu politischen Fragen verpasst. Wir haben bei Athletensprecher Max Hartung nachgefragt.

DW: Herr Hartung, hätte es "Black Lives Matter"-Aktionen von Sportlern bei den Olympischen Spielen in Tokio gegeben, wenn sie schon in diesem Jahr stattgefunden hätten?

Max Hartung: Das ist natürlich ein großer Konjunktiv. Aber es sieht sehr danach aus.

Und wie wird es im nächsten Jahr aussehen, wenn die Spiele dann tatsächlich über die Bühne gehen sollen?

Das hängt von dem aktuellen Prozess ab, was dann erlaubt sein wird. Aber selbst wenn es weiter verboten sein sollte, haben offenkundig viele amerikanische Sportler so eine große Wut gegen die Ungerechtigkeit in ihrem Land, dass sie wahrscheinlich auch bereit wären, dort gegen bestehendes Regelwerk zu verstoßen.

In den USA haben Athleten gefordert, sofort die Regel 50 der Olympischen Charta abzuschaffen, in der Sportler während der Spiele "politische, religiöse oder rassistische Demonstration oder Propaganda" untersagt werden. Die US-Athleten sehen das IOC "am Scheideweg". Teilen Sie diese Einschätzung?

Dieses Regelwerk besteht schon sehr lange. Aber es gab in der Sportgeschichte immer wieder wichtige Momente, in denen man erkannt hat, dass Änderungen wertvoll sein könnten. So haben in den USA Colin Kaepernick [der Football-Profi kniete sich während der US-Hymne nieder, um gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen People of Color zu demonstrieren - Anm. d. Red.] oder Megan Rapinoe [die Weltfußballerin engagiert sich ebenfalls seit Jahren gegen Rassismus] mit ihren Aktionen gezeigt, dass friedlicher Protest von Sportlern einer Gesellschaft mehr nutzen kann als gewaltbereite Proteste auf den Straßen.

USA Sport & Protest | Megan Rapinoe, 2016
US-Teamkapitänin Megan Rapinoe (2.v.l.) kniet während der NationalhymneBild: picture-alliance/AP Photo/The Columbus Dispatch/K. Robertson

Warum hat es so lange gedauert, bis sich die Athleten mit vereinter Stimme gegen die Regel 50 wehren?

Das hängt mit der Vernetzung zusammen. Man steht als Athlet ja erstmal alleine da, die Verbände und Sportorganisationen sind dagegen gut vernetzt. Aber das Selbstbewusstsein einiger Sportler wird immer größer - genauso wie der Zusammenhalt und die Solidarität untereinander.

Sie sind ja zu Beginn der Corona-Krise vorangegangen, als sie erklärten, unter diesen Bedingungen auf die Spiele in Tokio zu verzichten. Wünschen Sie sich noch mehr Solidarität unter den Athletinnen und Athleten?

Ich hatte gerade in der Zeit, als über die Verschiebung der Olympischen Spiele diskutiert wurde, den Eindruck, dass wir in Deutschland viele Athletinnen und Athleten hatten, die sich super intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt haben. Das hat mir selbst auch Mut gemacht. Ich denke, wir sind in Deutschland auf einem sehr guten Weg und haben mit "Athleten Deutschland" auch eine Schnittstelle haben, wo wir die Athletinnen und Athleten zusammenbringen können.

Hat die Corona-Krise dazu beigetragen, dass sich die Athleten jetzt lauter zu Wort melden?

Ich denke ja. Es gab in kurzer Zeit sehr viele einschneidende Erlebnisse im Leben der Sportler: dass Olympische Spiele verschoben werden, Wettkämpfe ausfallen, man nur eingeschränkt trainieren kann. Für all diese Dinge gab es ja keine Blaupausen. Und so artikulierten die Sportlerinnen und Sportler - übrigens nicht nur im olympischen Sport, sondern zum Beispiel auch im Fußball- oder Eishockey-Ligabetrieb - deutlich ihren Wunsch, dass sie als Protagonisten, die nachher auf dem Feld stehen, auch schon im Entscheidungsprozess gehört werden.

Wie mündig ist denn inzwischen der Athlet aus Ihrer Sicht?

Das muss man natürlich für jeden Athleten einzeln bewerten. Aber ich habe schon den Eindruck, dass mehr Mut da ist, dass sich viele Athleten auch Gedanken über gesellschaftliche Themen machen und ihre Bekanntheit dafür nutzen wollen, die Gesellschaft positiv zu beeinflussen.

Olympische Momente Galerie
200-Meter-Olympiasieger Tommie Smith (2.v.l.) und John Carlos (r.) aus den USA mussten wegen ihrer politischen Geste bei der Siegerehrung die Olympischen Spiele in Mexiko verlassenBild: picture-alliance/United Archives/TopFoto

Lernen auch die Funktionäre dazu?

In Deutschland und auch weltweit hat sich zuletzt mehr getan als in vielen Jahren vorher. Das IOC hat zugestimmt, die Regel 50 zu überdenken. Daraus kann man lesen, dass wir uns in einem Zeitfenster befinden, in dem wir Athleten großen Einfluss nehmen können. Das deute ich positiv.

IOC-Präsident Thomas Bach hat die Athletenkommission beauftragt, sich mit der Regel 50 zu befassen. Sie haben das begrüßt. Sollte man die Kommission jetzt erst mal in Ruhe arbeiten lassen?

Der Prozess muss transparent sein und echte Teilhabe aller Athletinnen und Athleten garantieren. Wir wollen auch hier in Deutschland mit den Sportlerinnen und Sportlern darüber diskutieren, wie sie sich die Veränderungen vorstellen. Die Ergebnisse der Diskussion sollten dann auch bindend sein.

Was halten Sie vom Standpunkt des DOSB-Präsidenten Alfons Hörmann, politische Statements von Athleten für Menschenrechte grundsätzlich "positiv" zu bewerten, gleichzeitig aber klare Regeln dafür anzumahnen?

Ich glaube auch, dass man, wenn man die Regel 50 abschafft, neue internationale Regeln braucht. Es muss zum Beispiel Sanktionen geben, wenn zu Hass angestiftet wird oder Völkermorde geleugnet werden. Wir wollen darüber diskutieren, wo genau diese Trennlinien verlaufen.

"Athleten Deutschland" fordert gemeinsam mit anderen internationalen Athleten-Organisationen die Aufnahme eines neuen Grundprinzips in die Olympischen Charta: die Selbstverpflichtung auf international anerkannte Menschenrechte. Warum?

Nehmen wir das Beispiel der Regel 50. Ein grundsätzliches Menschenrecht ist die Meinungsfreiheit. Sie ist ein hohes Gut. Wenn dieses hohe Gut eingeschränkt wird, muss das sehr genau begründet werden. Meiner Meinung nach ist das bei der bestehenden Regelung nicht der Fall. Aber die Menschenrechte sind nicht nur bei den Athletinnen und Athleten, sondern bei allen Stakeholdern wichtig. Ich möchte zum Beispiel als Athlet nicht in einem Stadion antreten, das unter menschenunwürdigen Bedingungen gebaut wurde. Uns als Athleten in Deutschland ist es wichtig, dass die Menschenrechte in allen Teilen der Olympischen Spiele und auch bei den Weltverbänden immer eingehalten werden.

Max Hartung, 30 Jahre alt, ist Vorsitzender der Athletenkommission des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) und Präsident der "Athleten Deutschland". Die vom DOSB unabhängige Organisation wurde im Oktober 2017 gegründet, um den Interessen der Sportlerinnen und Sportlern mehr Gehör zu verschaffen. Als Säbelfechter gewann Hartung bisher mit dem deutschen Team und im Einzel insgesamt einen WM- und vier EM-Titel. Sein nächstes großes Ziel sind die Olympischen Spiele in Tokio, die wegen der Corona-Pandemie auf 2021 verschoben wurden. Nach der Corona-Pause ist er wieder ins Training eingestiegen.

Das Interview führte Stefan Nestler

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter