Mein Deutschland: Heute schon ein Leben gerettet?
7. April 2016"Wir brauchen einen Arzt im Wagen 31", drang die Stimme des Schaffners in die gähnende Stille. Kaum war die Durchsage zu Ende, schritten zwei Männer an uns vorbei. "Bestimmt sind sie Ärzte", flüsterte meine Tochter. Wenn das so wäre, dann hätten sie ja Gott sei Dank nur einen kurzen Weg, denn wir saßen im Wagen 32. "Am liebsten würde ich ihnen folgen", dachte ich laut. "Du bleibst hier, Mama", sagte meine Tochter bestimmend. Zwar hat sie ihre Volljährigkeit noch nicht erreicht, aber seit sie studiert und halbwegs aus dem Haus ist, redet sie manchmal mit mir so, als sei ich ein Pflegefall. Aber ich verstehe das als Fürsorge und nehme es ihr nicht übel.
Außerdem war das auch nicht ernst gemeint. Selbst wenn meine Neugierde groß ist, kann ich doch nicht als Schaulustige eine Rettungsaktion behindern. Zur Untätigkeit verdammt erzählte ich meiner Tochter von meinem Kindheitstraum, Ärztin zu werden. Am laufenden Band Leben zu retten - was ist das für ein Privileg! Doch der Traum währte nicht lange. Früh erkannte ich mein größtes Handicap - meine Ungeschicklichkeit, die sich bedauerlicherweise als mein treuester Lebensbegleiter erwiesen hat: Alles, was unter meine Hände kommt, geht kaputt. Wie kann ich da bei klarem Verstand noch Ärztin werden wollen?
Lieber Friseurschere als Skalpell
Zudem war ich Mitte der 1980er-Jahre fast froh, dass Medizin als Studienfach auch aus finanzieller Sicht für mich nicht in Frage kam. Wenige Jahre nach der Öffnung des Landes erlebte China die erste Welle der Kommerzialisierung. Der Sprung ins Meer (xiahai, 下海)wurde zum Volkssport. Damit ist nicht Winterschwimmen gemeint, sondern die Entscheidung, die eiserne Schüssel abzugeben, um das Glück im freien Unternehmertum zu suchen. Taxifahrer, Händler und Koch standen auf der Skala der Lieblingsberufe der Chinesen ganz oben. Wissenschaftler, Ärzte und Lehrer rangen dagegen um den ersten Platz auf der Liste der am schlechtesten bezahlten Jobs. Der Spruch "lieber eine Friseurschere in der Hand als ein Skalpell" machte die Runde.
Ärzte helfen nicht immer nur Patienten
Dieses gesellschaftliche Intermezzo in China tat meinem Respekt vor dem lebenrettenden Beruf des Arztes indes keinen Abbruch, auch wenn er in Deutschland einen kleinen Kratzer bekommen hat. Der Grund für den Kratzer liegt darin, dass ich nicht immer sicher sein kann, ob der Arzt mich als Patientin oder doch eher die Verdienstmöglichkeiten durch meine Wehwehchen im Blick hat. Doch in Momenten wie diesem handeln die Mediziner einfach nach dem Eid des Hippokrates, zum Nutzen der Patienten und ohne jede Gegenleistung - sie sind Helden im wahrsten Sinne des Wortes.
Schon haben meine Helden den Einsatz beendet. Sie setzten sich schräg hinter uns und mussten erst mal über den Vorfall reflektieren. Ich nahm mein Notizbuch und stand auf. Meine Tochter schaute mich an: "Mama, das ist jetzt nicht Dein Ernst." Ich wusste, dass sie sich wieder meiner schämte, weil ich gleich wildfremde Leute ansprechen würde. Da Eltern für ihre heranwachsenden Kinder oft eine Peinlichkeit darstellen, ignorierte ich ihren strengen Blick: "Keiner weiß, dass ich Deine Mutter bin."
Nichtstun ist fatal
Die beiden Internisten aus Köln, Mark Oette und Christoph Wyen, störten sich offensichtlich nicht an meiner Gesellschaft und gaben mir bereitwillig Auskunft. "Das Falscheste, was man machen kann, ist nichts zu machen", sagte Oette, Chefarzt im Krankenhaus der Augustinerinnen. 20 Fahrgäste sahen im Wagen nebenan zu, wie ein rund 75jähriger Mann bleich und reglos da saß. "Noch fünf Minuten, dann hätte er schwere Hirnschäden davongetragen", so Oette. Wie soll man sich als Laie in solch einer Situation verhalten, wollte ich wissen. Schließlich liegt der Erste-Hilfe-Kurs im Zusammenhang mit dem Führerschein bereits über 20 Jahre zurück. "Als erstes soll man den Patienten flach legen, dann Beine hochlegen, und als dritter Schritt kommt die Herzdruckmassage", erklärte Christoph Wyen, der eine Praxis am Kölner Ebertplatz betreibt. Die Mund-zu-Mund-Beatmung wurde vor Jahren abgeschafft. Die beiden Experten raten allen Bürgern zu einer Auffrischung des Erste-Hilfe-Kurses.
Auch auf privaten Reisen im ärztlichen Einsatz
Ungefähr bei jeder zehnten Reise erleben sie einen Notfall. Die Frage, handeln oder nicht handeln, stellt sich gar nicht. Unterlassene Hilfeleistung passt nicht zum Berufsethos. Aber manchmal kommt leider jede Hilfe zu spät. Das schlimmste Erlebnis für Mark Oette war, dass er einmal auf der Straße einen Mann zwar wiederbeleben konnte, der bereits einen Hirntod erlitten hatte. Umso mehr freut man sich über gelungene Einsätze. "Heute habe ich einem Menschen das Leben gerettet" - das können die beiden zum Glück sehr oft zu Hause verkünden. Und Ihre Kinder dürfen dann - zu Recht - unendlich stolz sein.
Übrigens: In China haben sich die Berufsvorstellungen in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend verändert. Heute ist nicht mehr Taxifahren das Nonplusultra, sondern Managen, am besten des Humankapitals oder der Investitionen. Ärzte haben es immer noch nicht in die Top Ten der beliebtesten Berufe geschafft, aber immerhin gehören sie zu den am meisten geachteten Menschen im Reich der Mitte.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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