Mein Europa: Auf dem Weg zur EUtopie
28. Oktober 2016Frankfurter Flughafen, Anfang der 80er Jahre. Wir kommen aus Warschau an: meine Mama, meine vierjährige Schwester und ich. In der Abenddämmerung sehe ich durch das Fenster die Gebäude des Terminals. Mein Vater ist vor einigen Monaten als Stipendiat nach Bielefeld gekommen. Gleich werden wir endlich wieder zusammen sein! "Mama?", frage ich mit beunruhigter Stimme. Ich bin noch nicht ganz acht Jahre alt. "Werden die Deutschen auf uns schießen?" Trotz des Bewusstseins, dass mein Vater auf uns wartete, ergriff mich Angst.
Woher stammte sie? Sie hatte ihre Ursache in dem, was wir heute "hate speech" nennen, und was in meinem Fall das Kinderfernsehen und das instrumentalisierte Bildungssystem war, die ich als Kind in der Volksrepublik Polen aufgesogen hatte. Der destruktive Einfluss des politischen Systems verdrängte die Wahrheit, die ich von zuhause kannte – schließlich hatte niemand meinen Vater erschossen! Das bedrückende Bewusstsein, welch enorme Schäden die giftige Sprache der Medien und Machteliten anrichten kann, begleitet mich bis heute.
Der europäische Traum
Ich gehöre zu einer Generation Europäer, die hinter dem "Eisernen Vorhang" auf die Welt kamen und dort aufwuchsen (nach knapp zwei Jahren kehrten wir aus Bielefeld zurück nach Warschau). Aber ich hatte das Glück, dass ich ins Erwachsenenleben eintrat, als dieser Vorhang zerfiel und eine Welle des Enthusiasmus über den sich vereinenden Kontinent hereinbrach.
Was war das für ein Europa? Zum einen war das ein Europa ohne Grenzen. Noch 1989 starben Menschen bei dem Versuch, aus Ostberlin in den Westen zu gelangen. Jedoch schon kurz darauf, als ich mein Studium begann, fuhr ich per Anhalter durch ganz Europa: von Słubice, an der polnisch-deutschen Grenze, bis ins andalusische Malaga am Mittelmeer. Der Enthusiasmus der Freiheit und das Gefühl, ein Bürger Europas zu sein, ist eines meiner Schlüsselerlebnisse. Schade, dass der Begriff "Bürger Europas" heute wie eine abgedroschene Phrase klingt und kein Äquivalent zum magischen "american dream" ist.
Zum anderen war ein Europa ohne Grenzen für mich kein Europa der Nationalstaaten, sondern eines der Regionen. Von meinen studentischen Reisen erinnere ich das Gefühl, dass ich mich an fast jedem beliebigen Ort des Kontinentes aufhalten, dort studieren oder sogar wohnen konnte. Meine Heimat war endlich Teil einer Welt großartiger Möglichkeiten geworden.
War es nicht genau so gedacht? Wenn jemand im bewölkten Jütland geboren wurde, aber die Sonne liebt, dann sollte er ohne Hindernisse nach Sizilien übersiedeln können. Die europäischen Machteliten wollten doch dafür sorgen, dass ein solcher Umzug genauso leicht umzusetzen wäre, wie aus Franken ins Münsterland!
Auf in Richtung EUtopie
Während einer Lesung auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin sprach ich über EUtopie. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet "der gute Ort". EUtopie ist als reelles Projekt gedacht, im Gegensatz zur Utopie, also einem "Ort, den es nicht gibt". Plötzlich stand eine elegante, ältere Frau aus dem Publikum auf und sagte: Wie soll das bitte funktionieren? Die Politiker lassen sich schließlich nicht von unseren Träumen leiten! Aber warum eigentlich nicht? Wählen wir sie nicht genau deshalb?
Die EUtopie ist ein Raum gleicher Möglichkeiten, der den ganzen Kontinent umfasst. Sie ist ein Ort, an dem das lokale, historische Gedächtnis und starke regionale Bindungen – zu Sprache, Bräuchen, sogar zum Essen und zum Klima – ergänzt werden durch ein gut regiertes Europa. So wird es ein globaler Akteur, der auf politischer, wirtschaftlicher und – wohl oder übel – auf militärischer Ebene agiert. Wie genau ein solches Europa aussehen könnte, schreibt zum Beispiel die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot.
Blicken wir der Wahrheit ins Gesicht: Immer öfter hat man den Eindruck, dass die Regierungen der Nationalstaaten nicht viel mehr schaffen, als die Schwächsten für die Fehler derjenigen bezahlen zu lassen, die zu stark sind, um zur Verantwortung gezogen zu werden. Ganz zu schweigen davon, dass sie unsere Träume nicht verwirklichen. Also es ist höchste Zeit: ab mit ihnen in die Mottenkiste!
Wie geht es weiter?
Meine kindlichen Erfahrungen aus Bielefeld haben noch eine Fortsetzung. Als ich mit meinen spärlichen Deutschkenntnissen etwas sagen wollte, erlaubte mir meine Schullehrerin immer wieder, ein paar Sätze auf Polnisch einzuschieben. Anschließend übersetzte eines der Kinder polnischer Herkunft diese laut vor der Klasse.
Auf diese Weise half mir die kluge Lehrerin nicht nur dabei, meine Angst zu besiegen. Sie lehrte auch die anderen Kinder, dass zusätzliche Sprachkompetenzen ein wertvolles Gut sind und keinen Anlass zu Scham oder Spott geben. Meine Ängste waren schnell vergessen. Mehrsprachigkeit als Kulturkompetenz und die Erneuerung der politischen Sprache – das sind die Grundpfeiler der EUtopie.
Heute bestimmen immer häufiger nationalistische Populisten die Sprache der öffentlichen Debatte. Gleichheit vor dem Gesetz, repräsentative Demokratie, Frieden, Partizipation und das Recht auf Freizügigkeit (auf dem ganzen Kontinent!), das sind die Grundsätze des besten politischen Systems, das wir uns bisher ausgedacht haben. Geben wir es nicht an die Populisten ab! Machen wir uns besser auf den Weg - zur EUtopie.
Deutsche Fassung von Simone Falk in Zusammenarbeit mit dem Autor
Stanisław Strasburger wurde in Warschau geboren. Er ist Schriftsteller und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind kollektives Gedächtnis, Migration und Multikulturalität. In Buchform sind von ihm erschienen: "Besessenheit. Libanon" (2015 auf Polnisch, 2016 auf Deutsch) und "Handlarz wspomnień" (Der Geschichtenhändler, 2009 auf Polnisch, 2014 auf Arabisch). Er lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und Beirut.