Mein Europa: Bildung hilft gegen Krisen
30. Oktober 2021Ende 2016, ein Jahr nachdem ich meinen letzten Bürojob gekündigt und meinen ersten Roman veröffentlicht hatte, war ich bei einem Vortrag über Textilrestaurierung im Nationalmuseum Rumäniens in Bukarest. Die Ankündigung entdeckte ich zufällig, ich besuchte die Veranstaltung aus reiner Neugier. Fasziniert erfuhr ich, woran die Restauratoren arbeiteten (es ging um jahrhundertealte Teppiche und Kleidungsstücke), und erkannte, wie sehr ich diesen Bereich bis dahin ignoriert hatte.
Am Ende der Veranstaltung fragte ein Mann aus dem Publikum mit etwas zu lauter Stimme, wer die Textilrestaurierung denn finanziere. Wie viele Restauratoren es gebe, wie viele davon in Vollzeit an einem einzigen Objekt arbeiteten, und so weiter... Er schien eine Ermittlung zu Budgetfragen durchzuführen, dabei war er nur ein normaler Zuschauer. Die Dame, die die Präsentation gehalten hatte, kannte diese Details nicht und blieb sprachlos. Genau wie ich, die ich nur ein paar Reihen hinter diesem Mann im Publikum saß. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich habe das sehr persönlich genommen. Mit der Zeit entdeckte ich, dass viele Menschen sehr erstaunt sind über die Kosten im Kulturbereich - besonders, wenn es um staatliche Ausgaben geht.
Projekt "Gebildetes Rumänien": Leere Worte, leere Kalender
Es war das erste Jahr, in dem ich versuchte, als Selbstständige auf dem Arbeitsmarkt durchzuhalten, und ich wünschte mir, mich mehr mit dem Schreiben zu beschäftigen. Die Stimme jenes Mannes ging mir nicht mehr aus dem Kopf, seit damals höre ich ständig ihr Echo. Und seit einem Jahr beginne ich, mir selbst genau diese Frage zu stellen. Wie nötig ist das, was ich tue, wie relevant? Denn jenseits der finanziellen Schwierigkeiten, zu denen die Corona-Pandemie gerade bei Selbstständigen im Kulturbereich geführt hat, hat sie weitere tiefere Auswirkungen: Sie bringt uns dazu, an uns selbst und unseren Berufen zu zweifeln.
Der rumänische Präsident Klaus Iohannis, ein ehemaliger Physiklehrer, spricht seit langer Zeit stolz von seinem Herzensprojekt "Gebildetes Rumänien". Genau wissen wir aber bis heute nicht, was er damit meint. In den sieben Jahren seiner Präsidentschaft hat Iohannis nichts Konkretes getan, um diesen Bereich zu unterstützen - bis auf eine Website mit vielen leeren Worten (und einem genauso leeren Kalender in der Rubrik "Aktivitäten"). Obwohl das in Rumänien geltende Bildungsgesetz die Regierung eigentlich verpflichtet, jährlich sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung auszugeben, fließt de facto nicht einmal die Hälfte dieser Summe in diesen Bereich. In diesem Jahr hat die Bildung nur zweieinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhalten - der niedrigste Stand der vergangenen drei Jahrzehnte. Mehr noch: Nach Angaben des rumänischen Bildungsportals edupedu.ro decken fast drei Viertel dieser Summe lediglich die Gehälter der Angestellten im Bildungssektor ab.
Vom Bildschirm des Laptops kommt sehr wenig zurück
Der von Klaus Iohannis unterstützte scheidende liberale Premier Florin Citu (dessen Regierung durch ein Misstrauensvotum gestürzt wurde, Anm. d. Red.) erklärte in diesem Herbst, das Scheitern der Impfkampagne in Rumänien sei auch auf die mangelnde Bildung der Rumänen zurückzuführen. Seine Aussagen waren extrem zynisch - und das obwohl wir in unserer Region an Politiker gewöhnt sind, denen Empathie, Kultur, Kompetenzen und Visionen fehlen.
Bildung und Kultur sind Bereiche, die man nicht voneinander trennen kann. In den vergangenen anderthalb Jahren haben wir, die Menschen, die im Kulturbereich oder an Kulturprojekten in der Bildung arbeiten, unsere Bezugspunkte verloren. Durch den Übergang in die Online-Welt können wir nicht mehr so gut erkennen, welche Wirkung unsere Aktivitäten haben. Vom Bildschirm des Laptops kommt sehr wenig zurück. Jedes Kästchen bei Zoom, in dem Kamera und Mikrofon ausgeschaltet werden, und jedes Kästchen bei MS Teams, in dem ein Kind aus dem Auto einem Event oder einem Online-Kurs beitritt, sind für mich ein persönliches Scheitern. Manchmal lachen Teilnehmer, während ich spreche, und ich habe das Gefühl, sie würden mich verspotten, dabei schauen sie sich wahrscheinlich nur etwas Lustiges bei Netflix an. Während eines Vortrags, den ich online vor Studierenden hielt, begannen ein Junge und ein Mädchen, die auf derselben Couch vor dem Laptop saßen, leidenschaftlich zu knutschen. Ich habe meinen Bildschirm so positioniert, dass ich nur noch mich selbst im Bild sehen konnte, weil ich nicht wusste, wie ich sonst darauf reagieren sollte.
Der Makel der fehlenden gesellschaftlichen Relevanz
Um meine fehlende gesellschaftliche Relevanz zu kompensieren, spende ich ab und zu bescheidene Summen für Projekte im Bereich des unabhängigen Journalismus. Investigativjournalismus war ein Berufszweig, über den ich vor längerer Zeit als Studentin der Philologie ernsthaft nachdachte.
Einmal war ich in der engeren Auswahl einer Zeitung, die freie Mitarbeiter suchte. Von mir wurde verlangt, einen Vorschlag für eine Recherche zu einem mittleren bis großen Korruptionsfall einzureichen. Das einzige Thema, das mir einfiel, war die bescheidene Summe, die der Kontrolleur im Zug einsteckt, wenn er jemanden ohne Fahrschein erwischt. Etwas Seriöseres als das hätte ich nicht vorschlagen können. Ich schrieb eine Email an die Zeitung, in der ich mich entschuldigte. Ich weiß nicht mehr genau, wofür. Wahrscheinlich für meine Unfähigkeit, etwas gesellschaftlich Relevantes zu tun. Diesen Makel trage ich ständig mit mir.
Es ist interessant, wie jeder von uns sich eine geistige Landkarte der Relevanz aufbaut, je nach dem sozio-politischen Kontext, aber auch auf der Grundlage unserer Komplexe - und des Mutes, für unsere Beschäftigungen und unseren Platz in der Welt einzustehen. Ich möchte mich selbst und andere Künstler und Kulturschaffende nicht bemitleiden. Genauso wenig will ich die mehr als offensichtliche Mühe anderer Berufsgruppen kleinreden, für die die vergangenen anderthalb Jahre die Hölle waren. Doch ich bin mir nicht sicher, ob uns die Einteilung der Gesellschaft in "essenziell" und "nicht-essenziell" (oder in verschiedene Kategorien des "Essenziellen") gut getan hat. Ich verabscheue es, über die "Macht des Wortes" zu sprechen. So wie ich es auch verabscheue zu erklären, wieso es wichtig ist, dass wir lesen, wozu ich oft aufgefordert werde. Es ist, als würde ich erklären, wieso es wichtig ist, Wasser zu trinken. Doch einige Worte, die endlos wiederholt werden, können das ohnehin fragile Gleichgewicht diskriminierter Berufsgruppen schwächen.
Journalisten brauchen ein gebildetes Publikum
Mein kleines Ventil ist, dass ich zumindest symbolisch die Aktivitäten von Menschen unterstütze, die ich für relevanter halte als mich selbst: unabhängige Journalisten. Damit diese aber zwischen all den Bergen von falschen oder manipulativen Nachrichten überleben, brauchen sie ein Publikum, das über eine gewisse Urteilskraft verfügt. Das gebildet ist.
Ich hoffe, dass irgendwann im Laufe meines Lebens noch eine Zeit kommen wird, in der wir am Internationalen Tag der Bildung etwas Konkretes zu feiern haben: renovierte Schulen, öffentliche Bibliotheken mit aktuellen Büchern, einen effizienten öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Rumänien, kompetente Lehrkräfte, die angemessen bezahlt werden, eine größere Offenheit für kulturelle Aktivitäten und vieles, vieles mehr. Bildung hilft uns, Krisen jeglicher Art zu überwinden. Und die Arbeit von allen zu verstehen und zu respektieren, egal wie verlockend es wäre, eine Liste der Irrelevanz zu erstellen, wenn Budgetkürzungen anstehen.
Lavinia Branistes erstes Werk, "Interior zero", wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Null Komma Irgendwas". Ihr zweiter Roman, "Sonia ridică mână" ("Sonia meldet sich"), wurde im Frühling 2021 auch auf Deutsch veröffentlicht.
Adaption aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle