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Politik

Mein Europa der zwei Geschwindigkeiten

Jagoda Marinic
8. September 2017

Im angeblich "langsamen" Teil Europas ändert sich das Leben rasant schnell. Viele Menschen werden dabei sozial abgehängt. Doch darf man sie nicht den Populisten überlassen, meint Jagoda Marinic.

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Jagoda Marinic Autorin
Bild: D. Piroelle

Ich habe diesen Sommer in Dalmatien verbracht. Dort pflegt man immer noch den Lebensstil "pomalo" - langsam, ohne Hast, ohne Hektik. "Pomalo" ist ein Wort, das den mediterranen Lebensstil greifbar macht. Der puerto-ricanische Sänger Luis Fonsi hat dieses Jahr aus diesem Stil den Sommerhit gemacht: "Despacito". Das ist das spanische "pomalo". In Deutschland gibt es ein Wort wie "pomalo" nicht.

Bundeskanzlerin Merkel spricht gerne von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Sie übersieht dabei, wie schnell sich, trotz des gemütlichen Lebensmottos, diese Regionen wandeln. In nur zwanzig Jahren hat sich am Mittelmeer so vieles verändert. Wie kann man von Deutschland aus, wo seit zwölf Jahren der Stillstand regiert, wo man noch nicht einmal schnelles Internet flächendeckend umgesetzt bekommt, die Region, in der sich der Turbokapitalismus sich fast widerstandslos ausbreiten kann, von einem "langsamen Europa" sprechen?

Abgeschaffte Melancholie

Gut - die reichen Nordeuropäer kommen mit ihren Mega-Yachten schneller in die schönsten Buchten und kaufen schneller die schönsten Ferienhäuser auf. Zugegeben, die deutschen und österreichischen Firmen waren schneller: dm-Markt, Bipa, Kaufland, Lidl, Bauhaus... Alle sind sie schon da. Die Mitarbeiter in diesen Kaufhäusern sind nicht immer so schnell. Müssen sie das sein für einen Mindestlohn von etwa drei Euro - und Warenpreisen wie in Westeuropa?

In Split, einer der schönsten Städte des Landes, muss man im August Einheimische mit der Lupe suchen. Sechs Touristen-Betten auf einen Einheimischen, sagt die Statistik. Die marmornen Städte wie Dubrovnik und Split sind inzwischen Kulissen für "Game of Thrones" und bald schon "Mamma Mia II". Ein Land, erobert vom umherspazierenden Heer der Reisenden.

Bildergalerie Sehnsucht nach Europa Split
"Pomalo" ist die Lebensphilosophie auf der Promenade von SplitBild: DW

Wo soll ich weitermachen mit dem Einzug des schnellen Lebens ins angeblich langsamere Europa? Ach ja, der westliche Schönheitswahn. Ob Mann oder Frau - selbst seriöse Zeitungen suchen im Sommer den attraktivsten Körper an der Adria: Körperkult mit L-Carnitin und in Turbogeschwindigkeit. Keine Schauspielerin, die sich nicht auf Instagram in der Sonne räkeln und ihren eisernen Work-out-Willen zeigen würde.

Die westliche Botschaft dahinter: Die slawische Melancholie wurde abgeschafft. Sind wir nicht alle schön und liebenswert, glücklich und geil? Berufliches Networking als Freundschaftsmodell ist auch in Südosteuropa angekommen. Alle posten ihre hashtags in Englisch: Wir sind Teil der Weltgemeinschaft, yeah! Wer will schon Teil des langsamen Europas sein müssen, wenn´s geht, will man nach Düsseldorf auf die Modemesse, yeah! Like!!

Wo sind bloß die Eingeborenen hin?

Zimmermädchen bei der Arbeit
"...sie werden die Bettlaken der Nordeuropäer waschen."Bild: Fotolia/stefanolunardi

Ein britischer Tourist beschwert sich hingegen auf seinem Reiseblog: "Was nervt? Ich kann hier nur mit Deutschen mein Bier trinken, wo sind die Einheimischen hin?" Die waschen wahrscheinlich im Rahmen von Kurzzeitverträgen seine Bettlaken. Meine Freunde da unten arbeiten den ganzen August an diesem Tourismusboom mit, während meine Freunde von hier oben allein für ihre sieben Nächte im Hotel das Monatsgehalt meiner Freunde von unten ausgeben. Vielleicht meinte Merkel das mit Europa der zwei Geschwindigkeiten: Die Nordmenschen geben ihr Geld schneller aus als die Südmenschen es verdienen können.

Vor Jahren geisterte der Unsatz eines kroatischen Politikers durch die Medien: "Lasst Eure Kinder nicht mehr studieren, sie werden die Bettlaken der Nordeuropäer waschen." Das war keine Satire, das war sein Ernst. Die Menschen sind nach wie vor stolz. Sie wollen mehr. Aber das Angebot ist rar und der Weg zum ehrlichen Wohlstand für Normalbürger steinig. Wann immer ein hartes Gesetz eingeführt wird, wie die "Fiskalizacija" zum Beispiel, behauptet die Regierung, das sei europäischer Standard. Ich habe von meinen Eisverkäufern in Deutschland selten eine ausgedruckte Rechnung für meinen Eisbecher erhalten. Vielleicht ist deshalb der Mittelstand in Deutschland schneller, weil der Staat den Kleinunternehmern hier und da Freiräume lässt. Darf man so nicht sagen. Aber trotzdem.

Europa - ein Kontinent

In der Altstadt von Split gibt es hier und da einen schicken Teller Pasta für 30 Euro. Und zeitgleich liest man, dass bei dieser Jahrhunderthitze in der größten Klinik von Split in der Abteilung Pneumologie Klima-Anlagen fehlen. Ich sehe die Lungenkranken vor mir, wie sie in dieser Hitze nach Luft ringen und unter ihren weißen Laken liegen, von denen ich nicht weiß, wer sie wäscht und für wieviel Geld.

Eines Abends, knapp hinter der Wohnsiedlung meiner Freunde, brennen die Bäume in einer Geschwindigkeit ab, dass die Feuerwehrmänner kaum nachkommen. Die Touristen knipsen wohl ihre Selfies mit glühendem Sonnenuntergang, während Einheimische mit der zu knapp ausgerüsteten Feuerwehr, die ständig abwägen muss, welcher der vielen Brände zuerst gelöscht werden muss, gegen das Feuer ankämpfen.

Kroatien Touristen in Dubrovnik
Touristen in Dubrovnik - wo sind bloß die Einheimischen?Bild: DW/M. Ercegović

Ich weiß nicht, ob Merkel alles das meint mit dem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Ich weiß nur, in diesem Europa muss das Gemeinwesen zur Priorität werden, die Lebens- und nicht die Reisesituation der Bürger dieses Kontinents. Andernfalls muss dieses Europa sich nicht wundern, wenn Nationalisten das Gefühl der Bürger, abgehängt zu werden, nutzen, um zu behaupten, sie könnten es besser. Auch in dieser Hinsicht sind wir nicht das Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern ein Kontinent.

Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Sie wurde als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren. Zurzeit lebt sie in Heidelberg. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland?". Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.