Mein Europa: Wir brauchen eine Internetpolizei!
12. Januar 2018Stellen Sie sich einmal vor, Sie gehen abends aus dem Haus. Auf der einen Seite steht plötzlich jemand mit einer Reichskriegsflagge, auf der anderen Seite ein Mann, der in sein Megaphon brüllt: "Asylheime müssen brennen!" Während Sie noch über diese Szenerie erschrocken sind, stupst Sie eine unbekannte Person von hinten an und flüstert Ihnen ins Ohr: "Wir wissen, wo du wohnst, und wir kriegen dich."
Wenn Sie nicht in Dresden wohnen und an einem Montagabend in eine Pegida-Demonstration hineinlaufen, wird es zu solchen Szenen normalerweise nicht kommen. Weil die meisten Menschen nämlich eine ordentliche Erziehung genossen haben und wissen, dass sich solche Ansichten und Drohungen nicht gehören.
Manche würden ein solches Verhalten zwar gerne an den Tag legen, tun es aber nicht, weil sie Angst vor Strafverfolgung und der Polizei haben. Diese Angst haben sie im Internet nicht. Wer in Sozialen Medien droht, Rassismus verbreitet oder beleidigt, hat in Deutschland de facto keine Strafverfolgung zu fürchten.
Lob aus Russland für deutsches Gesetz
Eine Ausnahme bilden Fälle, die großes öffentliches Interesse hervorrufen. Nachdem der AfD-Politiker Jens Maier den Sohn von Boris Becker, Noah Becker, auf Twitter rassistisch beleidigte, erließ das Berliner Landgericht eine einstweilige Verfügung. Mit weniger prominenten Fällen befasst sich die chronisch überlastete Justiz in Deutschland für gewöhnlich nicht.
Die Bundesregierung hat das Problem erkannt, darauf aber leider mit einem der dümmsten und gefährlichsten Gesetze reagiert, die in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wurden. Und das, obwohl es vorher von fast allen Sachverständigen massiv kritisiert wurde.
Um fair zu sein - es gab auch Lob. Abgeordnete von Wladimir Putins Duma-Fraktion "Einiges Russland" fanden das deutsche Gesetz sogar so gut, dass sie es gleich kopierten und im russischen Parlament als Gesetzesvorschlag einbrachten.
Im Zweifel gegen den Angeklagten
Das Netzwerkdurchsuchungsgesetz (NetzDG) ist in Deutschland seit Jahresbeginn in Kraft - und das vermehrte Löschen von Beiträgen in sozialen Medien hat schon begonnen. Dem fallen auch politische oder satirische Beiträge zum Opfer, die weder strafrechtlich relevant noch Hate Speech sind. Twitter hat besonders viel Humorlosigkeit bewiesen und zeitweise den Account des Satiremagazins "Titanic" gesperrt.
Wenn der deutsche Staat mit Strafen droht, dann reagieren die Internetriesen nach dem Prinzip: "In dubio contra reum" - im Zweifel gegen den Angeklagten. Facebook, Twitter und Co. mussten schon vor dem Inkrafttreten des NetzDG gemeldete Inhalte auf strafrechtliche Relevanz prüfen. Das Problem mit dem neuen Gesetz ist, dass sie ihre Mitarbeiter aus Angst vor Strafen nun noch schneller löschen und sperren lassen.
Es gibt aber auch Inhalte, bei denen Laien nicht auf den ersten Blick erkennen können, ob sie strafrechtlich relevant sind und bei denen klar abgewogen werden muss, was zu weit geht und was noch unter die Freiheit der Meinung und Kunst fällt.
Ironischerweise ist Justizminister Heiko Maas möglicherweise Opfer seines eigenen Gesetzes geworden. Er twitterte im November 2010, kurz nachdem Thilo Sarrazin sein "Rassenkundebuch" mit dem Titel "Deutschland schafft sich ab" veröffentlichte: "Beim Besuch der islamischen Gemeinde Saarbrücken ist mir gerade wieder klar geworden, was für ein Idiot Sarrazin ist."
Satire oder Drohung?
Dabei ist es schlichtweg falsch, Thilo Sarrazin als einen Idioten zu bezeichnen, da der Begriff aus dem Altgriechischen stammt und Personen beschrieb, die sich aus öffentlich-politischen Angelegenheiten heraushalten, was Sarrazin leider nicht tut. Richtig wäre es gewesen, ihn als schlechten Halbzeitautoren und widerwärtigen Vollzeitrassisten zu bezeichnen, der den Hass auf Minderheiten in Deutschland wieder salonfähig gemacht hat.
Ups! War das jetzt schon eine Aussage, die unter das NetzDG fällt und deswegen gelöscht werden sollte, oder ist das Meinungsfreiheit? Und mal ehrlich: Wollen Sie wirklich, dass Facebook, Twitter und Co. das entscheiden? Der erste Schritt einer neuen Bundesregierung sollte sein, das NetzDG wieder abzuschaffen.
Damit ist es aber nicht getan, denn es ist kein Zufall, dass Rechtspopulisten, Rechtsextreme und Neonazis zu den größten Kritikern des NetzDG gehören. Die wollen weiter hetzen und ungestraft Rassismus, Sexismus und Antisemitismus verbreiten.
Deswegen brauchen wir eine Internetpolizei. Nein, ich meine damit keine Streifenpolizisten, die von der Straße wegbeordert werden und dann gezwungen werden, den ganzen Tag hirnzerfressende Kommentare auf Facebook zu lesen. Ich meine dafür ausgebildete Leute, die abwägen können, was Satire und Polemik und was Drohung und Volksverhetzung ist. Kompetente Personen, die erkennen, ob Nutzern mal etwas "ausgerutscht" ist und darauf freundlich bis witzig hinweisen, oder ob jemand gerade die Grenze zu einer Straftat überschritten hat.
Einen Beitrag zu löschen ist nicht genug
Das Problem der Straffreiheit im Netz wird durch das NetzDG nicht behoben, denn strafrechtlich relevante Beiträge werden einfach nur gelöscht. Die Justiz in Deutschland bleibt aber weiterhin überlastet. Es braucht schlichtweg mehr Ressourcen und mehr Richter, die sich mit der Thematik auskennen.
Wenn jemand droht, mich körperlich anzugreifen, dann will ich nicht, dass dieser Beitrag einfach gelöscht wird. Ich will, dass diese Person merkt, dass man so etwas nicht wiederholt straffrei tun kann. Wenn jemand "Juden ins Gas" postet, dann will ich, dass sich diese Person wegen Volksverhetzung verantworten muss - und nicht nur ärgert, weil der Beitrag plötzlich verschwunden ist.
Eine Internetpolizei wäre natürlich deutlich teurer, als die Verantwortung auf die Konzerne zu übertragen, wie es jetzt geschehen ist. Wer soll das bezahlen, werden nun einige fragen. Nun, es gibt dieses Modell, in dem Unternehmen Steuern in den Ländern bezahlen, in denen sie ihre Gewinne erwirtschaften, von denen dann wiederum staatliche Ausgaben wie Polizei, Schulen und Krankenhäuser bezahlt werden. Apple, Alphabet und Facebook sind keine Freunde von diesem Modell, aber das ist wieder eine andere Baustelle.
Krsto Lazarevic ist in Bosnien-Herzegowina geboren und floh als Kind mit seiner Familie nach Deutschland. Heute lebt er in Berlin, arbeitet als Journalist und Publizist und schreibt für verschiedene deutschsprachige Medien.