Mein Nachbar, der Sadist
26. Oktober 2016Die Jalousien der unteren Etage des unscheinbaren Hauses waren geschlossen - immer. Es gibt solche Zeitgenossen. Lieber Lampe an bei Sonnenschein, Hauptsache nicht gesehen werden. Doch Wilfried W., der Bewohner, und seine damalige Frau Angelika hatten offensichtlich nicht irgendeinen harmlosen Spleen, sie hatten fürchterliche Gründe, sich zu verschanzen. Das Paar aus dem Saatweg im westfälischen Höxter-Bosseborn hat gefoltert, jahrelang. Angelika W. war abwechselnd Opfer oder Komplizin ihres Mannes.
Wie viele Frauen mit knapper Not der Gewalt des Ehepaares W. entkommen sind, nachdem sie zuvor per Kontaktanzeige geködert worden waren, kann die Polizei noch nicht sagen. Eine 40-köpfige (!) Sonderkommision "Bosseborn" sucht immer noch fieberhaft nach Frauen, die sich bis heute nicht gemeldet haben - aus Scham. Es könnten mehr als 30 sein.
Das Grauen von Höxter
Susanne F. ist eine davon. Am 21. April 2016 kurz vor Mitternacht wird sie per Notarztwagen in die Helios Klinik Northeim eingeliefert. Angelika W. selbst hatte den Notruf ausgelöst. Es ist der Auslöser, der (fast) alles ans Tageslicht bringt. Schon auf der Fahrt bemerkt die Ärztin Verletzungen am ganzen Körper: Blutergüsse, Fesselspuren, aufgelöste Zehennägel und faules Fleisch am Steißbein. Susanne F. muss wochenlang in gleicher Stellung gelegen haben. Die Frau ist nicht mehr zu retten, sie stirbt.
Im Haus des Folterpaares dann eine Entdeckung. Hunderte Zettel findet die Polizei, auf denen sich Wilfried und Angelika W. unterschreiben ließen, dass sich ihre Opfer sämtliche Verletzungen selbst zugefügt haben. Der Ort des Verbrechens erinnert an eine überdachte Müllhalde, sagen die, die es gesehen haben. Es ist kalt und feucht. Die Tapeten lösen sich von den Wänden, Schimmel überall. Trotzdem fühlt sich Christel P. anfangs wohl hier. Sie hatte auf eine Anzeige reagiert: "Bauer sucht Frau. Ich bin lieb, nett zärtlich…", sie verliebt sich in den Mann, der sie kurz darauf mit Handschellen im Schweinestall ankettet - barfuß im Mist, nur mit einer Unterhose bekleidet. Später darf sie das Badezimmer nicht benutzen, auch nicht das WC. Ihre Notdurft muss sie im Katzenklo verrichten. Schlafen darf sie nur unter dem Computer-Tisch. Handy, Portemonnaie, Führerschein, Geldkarte: Alles wird ihr abgenommen. Christel P. ist in dem Prozess gegen ihre Peiniger, der an diesem Mittwoch (26.10.2016) in Paderborn beginnt, von zentraler Bedeutung. Sie ist die einzige Zeugin, die weiß, was in dem Haus vorging und wieder raus kam. Sie wird auch Angelika W's. Rolle während ihres Martyriums ins Bild rücken. Die inzwischen geschiedene Frau Wilfried W's., die sich als seine Schwester ausgab und oft schlimmer quälte als ihr damaliger Mann.
Kranke Liebe
Angelika W. ist geständig. Anders als ihr Ex-Mann, der ihr die Schuld an allem gibt. Ihrem Anwalt Peter Wüller hat sie aufgeschrieben, wie oft sie in ihren 17 Jahren mit Wilfried W. selbst Opfer seiner Gewalt und seines Sadismus war. 250 Mal soll er sie gewürgt, 50 Mal verbrüht haben. Für seine "Spezialitäten" hatte er sich sogar Namen ausgedacht: "Titten beißen" und "Decken-Alte". Rund 180 Mal, so Angelika W., habe er ihr die Brüste blutig gebissen, 250 Mal die Decke über den Kopf gezogen und sich auf sie gelegt bis sie ohnmächtig wurde.
Und es gibt offenbar ein Muster für die Übergriffe des Mannes: Immer dann, wenn sie alleine mit ihm war, suchte er sie für seine grausamen Exzesse. Irgendwann muss die Idee der Kontaktanzeigen gekommen sein, um die fürchterlichen Gewaltfantasien an anderen auszuleben. Nur dann, wenn andere Frauen Ziel der Aggressionen Wilfried W's. waren, blieb Angelika W. verschont. Deshalb wohl macht sie sich als Foltergehilfin vorauseilend gehorsam daran, die Frauen zu quälen. Sie scheint ihrem Mann vollkommen hörig gewesen zu sein. Er duldete keinen Widerspruch, forderte bedingungslose Aufmerksamkeit.
Anika W., das Opfer, das im Ofen verschwand
Wilfried W. ist einschlägig vorbestraft. 1995 schon hatte er seine erste Ehefrau brutal malträtiert. Der arbeitslose Kioskbesitzer, heute 46, hatte schon damals gequält. Seine Ex-Frau Angelika, 47, war ihm dem Anschein nach schon beim Kennenlernen 1999 vollständig verfallen. Die gelernte Gärtnerin hatte bis dahin noch keine feste Beziehung, sie galt als Außenseiterin in der Schule, war dick und unansehnlich - so jedenfalls die Fakten und Einschätzungen aus ihrem Vorleben, die die Ermittler zusammengetragen haben. Fazit: Sie tat alles, um "ihren Wilfried" ruhig zu halten.
Wenn die angelockten Frauen Wilfried W. störten, weil sie nachts zur Toilette mussten, dann wurde sie aktiv. Anika W. hat das nicht überlebt. Bei ihrem letzten Fluchtversuch, nachdem sie zuvor bäuchlings wochenlang in einer Badewanne mit gefesselten Händen und Füßen gelegen hatte, stürzt sie nach Aussage von Angelika W. mit dem Kopf auf den Hof. Ihre Leiche verschwindet zunächst in der Tiefkühltruhe und wird später zersägt, dann im Ofen verbrannt. Knochenreste und Zähne werden mit dem Hammer zerschlagen. Das alles hat Angelika W. laut Ermittlern getan.
Höchststrafe? Psychiatrie?
Wie ist mit diesen menschlichen Abgründen nun umzugehen? Die beiden lebten in einer Wahnwelt, so der Essener Psychotherapeut Christian Lüdke. In einer Folie à deux, bei der das Täterpaar eine gemeinsame psychische Störung auslebt. In diesem Fall offensichtlich eine Übertragung des Wahnzustandes vom Haupttäter Wilfried auf seine Frau. Ein Gutachten soll klären, ob das Paar schuldfähig ist.
Borwin Bandelow, Psychiater aus Göttingen, hatte schon im Mai, kurz nach Entdeckung des Hauses in Höxter gesagt, Wilfried W's. Ex-Frau würde er vermutlich eine verminderte Schuldfähigkeit zusprechen. "Man muss sich diese Komplizinnen vorstellen wie Schizophrene, denen Gott gesagt hat: Bring deine Mutter um!"
Nun also der Prozess: Die Staatsanwaltschaft hat Wilfried und Angelika W. wegen Mordes durch Unterlassen angeklagt. Verantworten muss sich Angelika W. auch für versuchten Mord und Körperverletzung in fünf Fällen. Wilfried W. werden darüber hinaus Körperverletzungen in 30 Fällen zur Last gelegt.
Unterdessen sitzt Angelika W. in Untersuchungshaft und schreibt und schreibt, berichtet ihr Anwalt. Sie notiert jedes Detail und bleibt dabei völlig emotionslos. Sie fühle sich, habe Angelika W. ihm gesagt "wie im Urlaub".