Deutschland hat endlich verstanden
2. Dezember 2021Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, heißt es im Volksmund. Im Kampf gegen die dramatische Lage an der Corona-Front, also auf den Intensivstationen der Krankenhäuser, hätte diese Einsicht schneller kommen müssen. Und das wäre möglich gewesen, denn Deutschland erlebt bei den Infektions- und Todeszahlen Ende 2021 ein Déjà-vu. Schon zur Jahreswende 2020/21 gab es nämlich eine vergleichbare Entwicklung wie jetzt - zwölf Monate später.
Leider haben sich die Bundesregierung mit der stets mahnenden Kanzlerin Angela Merkel und die 16 Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer nie auf eine gemeinsame Strategie zur langfristigen Eindämmung verständigen können. Deshalb setzte die demnächst aus dem Amt scheidende Merkel mit ihrer Parlamentsmehrheit im Frühjahr 2021 die umstrittene Bundesnotbremse durch. Aus ihrer Sicht war das konsequent, für die politische Kultur in Deutschland war das ein schlechtes Zeichen.
Keine Ausgangssperren, keine Schulschließungen
Zum Glück hat sich dieses Schauspiel jetzt nicht wiederholt. Alle haben den Ernst der Lage erkannt, egal welcher Partei sie angehören oder aus welchem Bundesland sie kommen. Das Gute an den gemeinsamen Beschlüssen: Es wird keinen weiteren flächendeckenden Lockdown geben, keine Ausgangssperren und keine Schulschließungen.
Ob diese in der Vergangenheit zentral angeordneten Maßnahmen sinnvoll waren, kann niemand mit absoluter Sicherheit sagen. Kurzfristig haben sie das Infektionsgeschehen sicherlich positiv beeinflusst. Für die langfristigen Folgen einer Gesellschaft - wirtschaftlich, gesundheitlich, kulturell - lässt sich das aber gewiss nicht behaupten. Aber auch diese Perspektive muss eine verantwortungsbewusste und weitsichtige Politik stets im Blick haben.
Alle haben dazugelernt - fast alle...
Vor diesem Hintergrund sind die jüngst veröffentlichten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zu Ausgangssperren und Schulschließungen sehr hilfreich. Zwar wurden sie im Nachhinein für zulässig erklärt - aber im Lichte der jeweils aktuellen Gefahrenlage und des Erkenntnisstandes. Und weil bei Corona beides untrennbar zusammengehört, ist es heute viel schwieriger, alles auf einen Schlag dicht zu machen.
Inzwischen weiß die Medizin mehr, die Wissenschaft - und auch die Politik. Ja, die ganze Gesellschaft hat viel dazugelernt und tut das weiterhin. Wichtiger Teil dieses Lernprozesses sind Politikerinnen und Politiker, die mit Augenmaß das tun, was nötig ist. Dazu gehört, dass um- und einsichtigen Menschen für ihr solidarisches Verhalten mehr Freiheiten zugebilligt werden. Deshalb dürfen Geimpfte weiterhin ins Theater, ins Fußballstadion, zu privaten Feiern und vieles mehr. Zwar mit Einschränkungen, aber die Möglichkeit besteht.
Keine Freiheit ohne Verantwortung
Im Umkehrschluss gilt nun für alle, die sich weiterhin uneinsichtig zeigen - also Impffähige, die sich aus Prinzip nicht immunisieren lassen wollen -, dass ihr Aktionsradius immer kleiner wird. Das ist keine Strafmaßnahme der Politik, sondern die konsequente Anwendung des großen Wortes von der Freiheit, zu der immer auch stets Verantwortung gehört. Oder mit den Worten des designierten Nachfolgers von Angela Merkel im Bundeskanzleramt, Olaf Scholz: "Es geht um eine große nationale Anstrengung und Solidarität."
Dieser Satz steht sinnbildlich für eine neue politische Kultur im Kampf gegen Corona. Er ist so oder ähnlich auch schon in den vergangenen Monaten oft zu hören gewesen - wurde aber zu selten mit Leben erfüllt. Wenn er jetzt zur unumstößlichen Leitlinie für Politik und Gesellschaft wird, darf Deutschland vorsichtig optimistisch in die Zukunft blicken. Denn trotz der neuen, erfreulichen Einigkeit gilt weiterhin: Corona mit all seinem Elend wird uns leider noch eine ganze Weile erhalten bleiben.