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Deutsche Politik ohne Migrationshintergrund

16. September 2021

Jeder Vierte in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Doch nur weniger als acht Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben ausländische Wurzeln. So bleibt das Parlament fern der Realität, meint Maissun Melhem.

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Zwei Geschäftsleute lehnen an überdimensionalen Puzzle-Teilen
Bild: picture-alliance/blickwinkel/McPhoto/ADR

"What's your Heimat?" wurde W. Michael Blumenthal, der Gründungsdirektor des Jüdischen Museums Berlin im Jahr seines Abschieds 2014 gefragt. Zur Erinnerung: Blumenthal kam 1925 in Oranienburg nahe Berlin zur Welt, wuchs in der Hauptstadt auf, die er dann aber als Jude 1939 mit seinen Eltern verlassen musste. Den Krieg überlebte die Familie in Shanghai, seit Jahrzehnten lebt der erfolgreiche Ökonom und Unternehmer nun im amerikanischen Princeton.

Blumenthal antwortete damals ohne zu zögern: "Meine Heimat sind die USA." Diese Antwort kann nicht überraschen: Immerhin war der Befragte einst Finanzminister der USA unter Präsident Jimmy Carter - genau 30 Jahre, nachdem er als 21-jähriger staatenloser Flüchtling mit 200 Dollar in der Tasche und nur wenig formaler Bildung erstmals in San Francisco amerikanischen Boden betreten hatte. Berlin sei ähnlich wie New York, sagte Blumenthal damals weiter, und er meinte damit das bunte und multikulturelle Straßenbild beider Städte. Womit er zweifellos recht hat.

Ein Zuwanderer als Minister?

Doch wie steht es um die Politik in Deutschland? Ist sie auch so bunt und multikulti wie die Berliner Straßen? Und ist der Aufstieg eines zugewanderten Flüchtlings in ein Ministeramt hier genauso möglich wie in den USA?

Prinzipiell schon, auch wenn es erst einmal vorkam. Und damals - vor nicht einmal zehn Jahren - wurde in Deutschland ernsthaft eine Debatte geführt, ob das "asiatische" Aussehen des Wirtschaftsministers und Vizekanzlers Philipp Rösler eigentlich mit seiner Position vereinbar sei. Ausgerechnet Rösler, der mit neun Monaten aus Vietnam nach Deutschland kam, bei deutschen Adoptiveltern aufwuchs und durch und durch deutsch sozialisiert ist! Und warum soll das Aussehen und die Herkunft eines Politikers überhaupt eine Rolle für seine politische Laufbahn spielen?

Eine ziemlich weiße Wahlkampagne

In wenigen Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt. Die deutsche Demokratie ist seit 72 Jahren stabil - ein Anlass zu feiern! Und doch drängt sich die Frage auf: Ist der Bundestag seinem vom Grundgesetz erteilten Auftrag weiterhin gewachsen? Sind die Abgeordneten wirklich "Vertreter des ganzen Volkes"?

Melhem Maissun Kommentarbild App
DW-Redakteurin Maissun Melhem

Die aktuellen Wahlumfragen machen fast allen Bundestagsparteien Hoffnung: Die Sozialdemokraten ernten Sympathie wie seit Jahren nicht. Die Grünen sind unerlässlicher Partner für fast alle kommenden Koalitionsoptionen. Die FDP hat sich offenbar endgültig vom Albtraum der Fünf-Prozent-Hürde verabschiedet. Und seit einigen Tagen erholt sich sogar die Union ein wenig vom absoluten Umfragetief.

Vorfreude auf den Wahlausgang also nahezu allerorten. Nur bei den Menschen mit Migrationsgeschichte nicht. Denn sie werden auch im neuen Bundestag weiterhin stark unterrepräsentiert bleiben. Im bestehenden Bundestag haben nur 58 von 709 Abgeordneten eine Einwanderungsgeschichte. Das entspricht einem Anteil von lediglich knapp acht Prozent.  Ein Spaziergang durch eine beliebige deutsche Straße - selbst im multikulturellen Berlin - zeigt, wie weiß die Wahlplakate und die Kandidierenden sind. Einen allzu großen Anstieg dieses Anteils versprechen sie jedenfalls nicht.

Migranten mehr als nur Zuschauer

Die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik begann schon wenige Jahre nach ihrer Gründung. Nachdem 1955 das erste "Gastarbeiter-Abkommen" unterzeichnet worden war, kamen Jahr für Jahr Menschen und nicht nur Arbeitskräfte, wie es der Schriftsteller Max Frisch so schön formuliert hat. Dazu haben seit den 1950er-Jahren knapp sechs Millionen Menschen Schutz und Asyl in Deutschland gesucht. Viele von ihnen fanden nicht nur temporär Sicherheit und Geborgenheit, sondern einen dauerhaften Neuanfang.

Die SPD-Abgeordneten Karamba Diaby (li.) und Yasmin Fahimi im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (re.)
Karamba Diaby (li.) stammt aus Senegal, der Vater von Yasmin Fahimi (Mi.) war Iraner - beide sind SPD-AbgeordneteBild: Reuters/A. Hilse

Genauso wie der einst ausgebürgerte Berliner W. Michael Blumenthal in den USA seine Heimat gefunden hat, hat der weitaus größte Teil dieser Menschen nun in Deutschland und nur hier ihr Zuhause. Sie sind Teil des Volkes, dessen Vertretung das Grundgesetz dem Bundestag anvertraut. Warum sollen sie sich damit begnügen, das politische Geschehen in ihrem Land nur von den Zuschauerreihen zu betrachten? Eine Frage, auf die es Antworten geben muss. Zumal es unter den Zuwanderern und ihren Nachkommen längst mehr als genug qualifizierte Köpfe auch für politische Ämter gibt.

Fest steht: Das Parlament eines Landes, in dem jeder Vierte eine Einwanderungsgeschichte hat, bleibt fern von der Lebenswirklichkeit, wenn nur weniger als acht Prozent der Abgeordneten ausländische Wurzeln haben. Wenn nun am 26. September wieder ein solcher Bundestag gewählt wird, dann muss die Frage, wie Migranten in der deutschen Politik künftig repräsentiert werden, dringend auf die Tagesordnung. Denn eigentlich wollen wir doch den berührenden Worten des Bundespräsidenten vom vergangenen Freitag glauben: "Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!"