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Falsche Versprechen im Corona-Lockdown

17. Februar 2021

So werden Hoffnungen enttäuscht: Aus dem magischen Inzidenzwert 50 wurde plötzlich eine 35. Gut, dass endlich ein einflussreicher Politiker aufbegehrt - auch wenn der für Marcel Fürstenau nur wenig glaubwürdig ist.

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Deutschland Anglizismus des Jahres 2020 ist Lockdown
Bild: Frank Hoermann/SvenSimon/picture alliance

Hand aufs Herz: Wissen Sie, wie man das aus dem Französischen abgeleitete Wort Inzidenz übersetzt? Ganz einfach: Häufigkeit. Sollten Sie das bis eben nicht gewusst haben, ist das kein Grund zur Sorge. Denn Sie wissen ja bestimmt schon lange, was damit gemeint ist, wenn Angela Merkel oder andere wichtige Menschen mal wieder vom "Inzidenzwert" reden wie vom Wetter. Na klar! Laut Duden, dem maßgeblichen deutschen Wörterbuch, ist das die "Anzahl der neu auftretenden Erkrankungen innerhalb einer Personengruppe von bestimmter Größe während eines bestimmten Zeitraums".

Im Zusammenhang mit der auch COVID-19 genannten Infektionskrankheit besteht die Personengruppe aus 100.000 Menschen und der Zeitraum beträgt sieben Tage. Und jetzt kommt eine Zahl ins Spiel, die seit dem Anfang November über Deutschland verhängten zweiten Lockdown in aller Munde ist: 50. Keine Geringere als Angela Merkel hat diese magische Grenze genannt, die es mit aller Macht zu unterschreiten gelte. Erst ab einem Inzidenzwert von 50 seien wieder Lockerungen möglich.

Eine demokratisch fragwürdige Art des Regierens

Deshalb starrte ganz Deutschland monatelang auf diese Zahl, mit der so viele Hoffnungen verbunden waren: offene Schulen und Kindertagesstätten, Geschäfte und Restaurants, Kinos und Museen, mehr private Begegnungen und vielleicht sogar Reisen. Genährt wurden diese Hoffnungen von der Bundeskanzlerin und den Regierungschefs der 16 Bundesländer. Seit März 2020 entscheidet diese in der deutschen Verfassung so nicht vorgesehene Ersatzregierung fast im Alleingang, was in Deutschland erlaubt und vor allem verboten ist.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
DW-Redakteur Marcel FürstenauBild: DW

Dieses demokratisch fragwürdige Gremium hat mit seinen jüngsten Beschlüssen viele Menschen mehr als enttäuscht: Denn plötzlich war aus der 50 quasi über Nacht eine 35 geworden. Erst ab diesem Inzidenzwert sollen nun Öffnungen größeren Stils möglich sein. Begründet wird diese willkürlich anmutende Verschärfung mit den Virus-Mutationen. Vor veränderten Corona-Varianten warnen Fachleute allerdings schon seit Beginn der Pandemie. Niemand sollte so tun, als wäre das eine Überraschung. Abgesehen davon ist längst noch nicht abschließend erforscht, wie gefährlich die Mutanten sind.

Wer kritisiert, muss mit Belehrungen rechnen

All das wissen natürlich auch jene, die uns auf Bundesebene und in den Ländern regieren. Sie umgeben sich mit den hoffentlich besten Frauen und Männern, die Viren erforschen, Impfstrategien konzipieren und Lockerungsszenarien entwerfen. Einer Meinung waren und sind sie sich dabei nie - daran hat sich das coronamüde Deutschland inzwischen gewöhnt. Aber auf die Zahl 50 sollte doch Verlass sein! Diese Zielmarke wurde uns doch in Pressekonferenzen, Talkshows und Interviews immer wieder vorgehalten - wie ein Versprechen.

Seit bald vier Monaten halten sich die allermeisten der rund 83 Millionen Menschen in diesem Land bewundernswert an die weit ins Privatleben eingreifenden Verbote. Und werden nach allen Entbehrungen für ihre Disziplin nicht etwa belohnt, sondern bestraft. Wer sich darüber beklagt, wird von oben herab darüber belehrt, die Zahl 35 stehe doch seit November sogar im Infektionsschutzgesetz, Ja, das stimmt. Aber sie steht dort so vage und unausgegoren, wie die Corona-Politik leider immer noch ist.

Die Stufenpläne der Opposition sind durchdacht

Und vor allem: Es gilt das gesprochene Wort. Wer die ganze Zeit bei jeder Gelegenheit einen Inzidenzwert von 50 predigt, muss sich daran messen lassen. Die Regierenden hätten auch die von der Opposition vorgelegten Stufenpläne für Lockerungen als Alternative begreifen können - statt sie als Populismus abzutun. Auch hinter den von Freien Demokraten (FDP), Grünen, Linken und der "Alternative für Deutschland" (AfD) vorgelegten Konzepten stecken überwiegend kluge Köpfe aus Wissenschaft und Wirtschaft.    

Einem aus der Riege der Länderchefs ist jetzt der Kragen geplatzt: Armin Laschet. Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, wo mehr als 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leben. Das Leben, sagt der Christdemokrat, bestehe "nicht nur aus Inzidenzwerten". Der mögliche Kanzlerkandidat seiner Partei und potenzielle Merkel-Nachfolger nach der Bundestagswahl im September geht sogar noch weiter: Man dürfe nicht immer neue Grenzwerte erfinden, "um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet".

CDU-Chef Laschet: Populist und Hoffnungsträger

Starker Tobak, keine Frage. Polemisch und populistisch spricht da einer aus, was viele denken. Man kann das opportunistisch finden, denn Laschet ist als Ministerpräsident mitverantwortlich für die jüngst verkündete Marschroute: keine weitgehenden Lockerungen, bevor der berühmt-berüchtigte Inzidenzwert auf 35 gesunken ist. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der momentan mächtigste und einflussreichste CDU-Politiker nach Angela Merkel unglaubwürdig.

Und trotzdem ist Laschet auch ein Hoffnungsschimmer für all jene, die von der sprunghaften und miserabel kommunizierten Corona-Politik die Nase voll haben. Nach dem Desaster mit dem Inzidenzwert 50, der zur 35 mutierte, fragen sich nämlich viele: Welche Zahl kommt danach? Hoffentlich nicht die Null. 

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Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland