Der Aufstieg von Yoshihide Suga vom Kabinettschef zum Premierminister grenzt an ein Wunder: Weder ist er bei den Bürgern besonders beliebt, noch gehört er einer politischen Dynastie in Japan an, noch verfügt er über eine Hausmacht in der Liberaldemokratischen Partei, die Japan seit nunmehr 65 Jahren dominiert. Seine Wahl zum Parteivorsitzenden und nun zum Premierminister mit klaren Mehrheiten verdankt Suga einer Hinterzimmerkoalition der Mächtigen, die ihn als Symbol für Kontinuität und Stabilität verkauft haben.
Jedoch verfolgten seine Unterstützer auch eigene Ziele: LDP-Generalsekretär Toshihiro Nikai und Finanzminister Taro Aso wollten ihre Ämter behalten und der bisherige Premier Shinzo Abe wollte den Aufstieg seines Dauerrivalen Shigeru Ishiba an die Parteispitze blockieren. Zu Abes Kalkül dürfte auch gehören, dass die Justiz seine persönliche Verwicklung in mehrere Korruptionsskandale unter der Regierung seines engsten Mitstreiters nicht untersuchen wird.
Premier von Gnaden seines Vorgängers
Suga ist also erst einmal ein Premier von Gnaden der Riege um Abe, Aso und Nikai. Es herrscht auch keine aufgeregte Aufbruchsstimmung wie zu Beginn der Ära Abe. Vielmehr wirkt die neue Administration altbacken und lahm, nicht zuletzt wegen des farblosen 71-Jährigen an ihrer Spitze. Daher sollte Suga den Mut aufbringen, den lähmenden Mehltau wegzublasen und eine vorzeitige Neuwahl noch in diesem Herbst anzusetzen. Die momentane Flaute bei den Neuinfektionen mit COVID-19 böte dafür eine gute Gelegenheit.
Nur mit einem klaren Wahlssieg kann Suga sich von der Marionette zum Puppenspieler wandeln. Nur so kann er aus dem Schatten seines alten Chefs heraustreten und den Geruch eines Übergangspremierministers abschütteln. Ansonsten muss er bei jedem größeren Stolpern damit rechnen, dass die Parteischwergewichte gegen ihn die Messer wetzen.
Zwar hat Suga ein überzeugendes Wirtschaftsprogramm skizziert: Er will die Abenomics-Politik fortsetzen. Das ergibt Sinn, ihre Säulen lockere Geldpolitik, flexible Fiskalpolitik und Strategien für Wachstum sind genau die Instrumente der heutigen Wirtschaftssteuerung. Nach der Corona-Rezession will er die Verwaltung digitalisieren, den ländlichen Raum beleben und die Sozialsysteme sichern. Endlich will jemand diese dringend notwendigen Strukturreformen, die Japan schon ewig vor sich herschiebt, anpacken.
Die Verschwendung wertvoller Jahre unter Abe
Shinzo Abe verwandte sein politisches Kapital lieber für nationalistische Projekte wie die Sicherheitsgesetze und eine Verfassungsreform weg vom Pazifismus und verschwendete dadurch acht wertvolle Jahre. Um größere Reformen hat er aus Angst vor den Wählern stets einen großen Bogen gemacht. Die Wirtschaft sollte vor allem gut laufen, damit er seine höheren politischen Ziele erreichen konnte.
Für Suga ist die Wirtschaftspolitik dagegen ein Selbstzweck, weil sie den Bürgern direkt zugutekommt. Doch ein ausgezeichneter Kabinettschef ist nicht automatisch ein fähiger Premierminister. Ein Verwaltungsapparat lässt sich mit harter Hand steuern, das Ausbalancieren von Machtinteressen erfordert diplomatisches Geschick und politisches Fingerspitzengefühl. Und Suga muss auch die Wähler auf seine Reise mitnehmen.
Mangelnde internationale Erfahrung
Jedoch gibt es berechtigte Zweifel daran, ob "Onkel Reiwa", wie er in Japan genannt wird, dafür die notwendige Ausstrahlung hat. Im Ausland dürfte er mangels Erfahrung erst einmal eine schwache Figur abgeben und mit seinen Auftritten beim heimischen Publikum wenig punkten können. Und zu Hause droht ihm das Andauern der Corona-Pandemie zum Verhängnis zu werden. Hier hat die Abe-Regierung, die er als Sprecher immer vertreten hat, bisher keinen kompetenten Eindruck gemacht. Wenn Suga nicht aufpasst, wird er seinen Spitzenjob so schnell wieder los wie er ihm in den Schoß gefallen ist.