Endlich. Einer der führenden Vertreter der katholischen Kirche bewegt sich und zieht Konsequenzen aus dem Skandal jahrzehntelangen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland.
Ja, endlich bewegt sich jemand und macht damit mehr als deutlich, dass sich in dieser Kirche etwas ändern muss. Zuerst (das ist eine offene Wunde) beim Umgang mit dem Thema Missbrauch, den Betroffenen und den Strukturen, die Missbrauch begünstigten und weiter macht-voll begünstigen. Dann aber auch beim Mut, sich als Kirche in der Gegenwart und einer modernen Gesellschaft zu verstehen. Dazu bräuchte es eine mutige Kirche. Die Menschen warten doch darauf, noch immer.
Respekt für diesen Schritt
So kann man dem Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx nur hohen Respekt zollen für seinen Schritt. Sicher, der 67-Jährige, von 2014 bis 2020 selbst Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, trägt Mitverantwortung für manche Zähigkeit bei der Aufarbeitung von Missbrauch. Und er ließ offen, inwieweit er bei seinem eigenen Handeln in Missbrauchsfragen Verantwortung sieht - vielleicht hat ihn auch das bewegt.
Aber dieser Schritt, sein Rücktrittsangebot, ist ein Symbol weit über sein Bischofsamt in München und seine persönliche Verantwortung hinaus. Sei es für ungeklärte Vorgänge unter seinem Vor-Vorgänger Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., sei es für alle die im deutschen Episkopat, die sich winden und die sich auf ihre Anwälte verlassen. Seit Monaten wird deutschlandweit über das Erzbistum Köln und seinen Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki geflucht.
Deshalb: "Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten." Marx-Sätze wie diese sind ein Signal an die vielen Bischöfe in Deutschland. Verantwortung - das ist etwas konkretes.
Für eine Kirche unter den Menschen
Der Kardinal wäre nicht Reinhard Marx, wenn er nicht vom dramatischen Vertrauensverlust und der Führungsschwäche der katholischen Kirche (Wer, bitteschön, interessiert sich denn bei einer wesentlichen sozialpolitischen oder ethischen Frage noch für das Wort eines Bischofs?) auf die Frage der Reformen gekommen wäre. Sie sind ihm, der von der Gestalt her so fürstbischöflich daher kommt, spätestens seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus ein Anliegen, vielleicht das zentrale Anliegen. Marx ist von Haus aus Sozialethiker. Er will Mitsprache, will eine Kirche unter den Menschen.
Da geht es nicht mehr allein um die zukünftige Gestalt von Kirche, sondern darum, ob Kirche überhaupt noch eine Zukunft hat. Gerne warnen konservative Köpfe dröhnend vor einer Anpassung an den sogenannten Zeitgeist. Dieses Dröhnen ist nicht primär ein deutsches Problem. Donnernde Worte hört man häufiger in den USA, man findet sie in anderen europäischen Ländern, in der römischen Kirchenzentrale. Aber letztlich ist das der Kurs in die gesellschaftliche Irrelevanz, der Weg zur Sekte. Der Versuch einer Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Mit dem Anspruch, den sich die Kirche beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) gegeben hat, hat das nichts zu tun.
Nochmal was ganz anderes machen
Marx verbindet seinen Entschluss mit einem Plädoyer für den sogenannten "Synodalen Weg". Die Bremser dieses Dialogprozesses sitzen in Deutschland in Köln, in Regensburg, in Passau. "Manche in der Kirche" wollten das "Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben" und stünden "deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüber", sagt Marx. Seit vielen Monaten wirkt die Bischofskonferenz gelegentlich wie paralysiert. Der Synodale Weg wie ein Stolperpfad mit Minendrähten. Marx sagt warum.
Ein letzter Punkt: Marx ist 42 Jahre Priester, 25 Jahre Bischof. Als Mitglied der erlesenen Kardinalsrunde, die Papst Franziskus berät, ist er Entscheidungsträger. Sein jetziger Entschluss ist kein spontanes Taktieren. Anfang 2020 gab er den Vorsitz der Bischofskonferenz ab. Und vor einer Reihe von Monaten überschrieb der Kardinal den Großteil seines Vermögens einer Stiftung - schon da grübelten manche, ob er wohl sterbenskrank wäre. In kleinem Kreis sprach Marx gelegentlich davon, dass er - auch als Priester - nochmal was ganz anders machen könne. Und man zweifelte leise.
Ein befreiter Marx
Gegen Ende seines Statements, mit dem er an diesem Freitag Macht ablegte, Zweifel bekannte und Stärke zeigte, klang seine Stimme freier, ja frei. Da sprach plötzlich der westfälische Priester über die Kraft des Evangeliums und die prophetische Bedeutung der Kirche. Selten hat man Marx in den vergangenen Jahren so entschieden, so befreit erlebt.
Es gibt Rücktritte, die sind notwendig - in der Politik, auch in der Kirche. Nach Papst Benedikt und seinem Rücktritt zum Ende der immer noch bleiernen Zeit kam Franziskus. Und was das bedeutet, weiß man bis heute noch nicht. Verunsicherung zumindest.
Gut, dass Kardinal Marx dieses Zeichen gesetzt hat. Die Kirche wird untergehen, wenn sich nichts ändert. Für ihn ist es seine Kirche, die für ihn immer noch gesellschaftlich wichtig ist und wichtiger wird.