Als diese Woche die Nachricht vom positiven Corona-Test des deutschen Gesundheitsministers Jens Spahn bekannt wurde, dachten viele, dass noch am gleichen Tag die halbe Regierung von Kanzlerin Angela Merkel in die Quarantäne geht. Spahn hatte am Vormittag desselben Tages an der Kabinettssitzung teilgenommen. Es wurde diskutiert, vielleicht auch mal laut, vielleicht auch gelacht. Nicht alle Teilnehmer trugen stets Masken. Als Laie denkt man: Ist das wirklich sicher? Quarantäne und Test könnten folgen, schließlich ist es die Bundesregierung.
Vorsicht geboten
Zu pingelig? Wohl kaum. Der Saal mag noch so eine gute Belüftung haben: Wo Menschen aufeinandertreffen, besteht ein Risiko. Es geht um Frauen und Männer, die täglich viele Termine haben, von Sicherheitsleuten und Mitarbeitern begleitet werden, weil sie ein 80-Millionen-Land regieren. Umso mehr darf man sich wundern, dass niemand danach - auch nur vorsichtshalber - in Quarantäne ging. Nur eine Ministerin soll anschließend einen freiwilligen Corona-Test gemacht haben.
Spahns Sprecher berichtete am gleichen Tag, der Minister habe "kein Fieber, aber Erkältungssymptome". Wie Bitte? Ging Jens Spahn mit Erkältungssymptomen in die Kabinettssitzung? Nein, wird zwei Tage später auf Nachfrage beruhigt. In der Sitzung sei dem Bundesgesundheitsminister lediglich seine belegte Stimme aufgefallen, danach kamen Erkältungssymptome dazu, also ließ er sich noch am gleichen Tag auf Corona testen. Ergebnis: positiv.
Merkel beim Shopping
Dass Angela Merkel keine Test-Empfehlung für alle Teilnehmer ausgesprochen hat, sondern ihr Sprecher auf das Hygienekonzept im Kanzleramt, den großen Raum und eine moderne Lüftungsanlage hinweist, klingt halbherzig. Was nicht falsch ist, muss nicht zwingend richtig sein. Mögliche Zweifel hätten schnell ausgeräumt werden können. Einer Regierung, die auf Einhaltung strenger Maßnahmen drängt, könnte ein demonstratives Zeichen besonderer Vorsicht gar helfen.
Vielleicht ist Merkel aber selbst schon Corona-müde. Die sonst so disziplinierte Bundeskanzlerin leistete sich kürzlich einen kleinen Ausrutscher. In ihrem wöchentlichen Podcast appellierte sie ans Volk: "Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause." Und kurz darauf wurde sie (mit Maske) beim Shopping in einem Berliner Kaufhaus gesichtet. Der Zeitpunkt war nicht ideal.
Der Bürger, der die sonst mahnende Kanzlerin an der Kasse trifft, denkt sich im besten Fall: Wie sympathisch - Angela Merkel beim Einkaufen ertappt. Im schlechten Fall denkt er: Corona - wohl doch nicht so gefährlich, wenn die Kanzlerin noch ins Kaufhaus geht. Es ist keine einfache Zeit, auch nicht für Politiker und Politikerinnen, aber möglicherweise unterschätzen sie ihre Vorbildfunktion.
Das Verzeihen kommt noch
Und noch etwas. Vielleicht sähe ich es nicht so streng, würde ich nicht ohnehin seit Monaten ein politisches Phänomen beobachten: Bis zum Frühsommer erlebten wir Journalisten selbst, dass im Reichstag im besten Fall die Gebäudeangestellten und Medienvertreter Masken trugen. Politiker dagegen bewegten sich durch die Flure, als wären sie immun. In den ersten Monaten der Pandemie war der Reichstag ein eigenes Universum. Die Maskenpflicht im Bundestag gilt erst seit dem 6. Oktober.
Zurück zu Jens Spahn. In den vergangenen Tagen ist er zig Menschen begegnet. Bei wem er sich angesteckt hat, konnte nicht nachverfolgt werden. Dass die Berliner Gesundheitsämter versichern, die Lage sei weiterhin unter Kontrolle, mutet da seltsam an. Sie schaffen es schon längst nicht mehr, alle Menschen rechtzeitig zu informieren, die in Quarantäne gehen müssten. Der Fairness halber: Schon mehrere Spitzenpolitiker haben sich vorsichtshalber selbst in Quarantäne begeben, weil es in ihrem Umfeld Infektionen gab, zum Beispiel Außenminister Heiko Maas, Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Jens Spahn wünscht per Twitter allen, denen er zuletzt begegnet ist, dass sie gesund bleiben. Er hat ja schon im Frühsommer in weiser Voraussicht gesagt, dass "wir einander wahrscheinlich viel werden verzeihen müssen". Er wird wohl recht behalten.