Wer kennt das nicht: Nur mal eben auf die Social Media-Timeline schauen. Wenn man dann irgendwann die mittlerweile geröteten Augen vom Bildschirm löst, ist wieder eine Stunde vergangen - oder mehr. Internetplattformen sind Zeitfresser - und das mit voller Absicht. Dank unserer Zeit und Aufmerksamkeit stiegen die Silicon Valley-Konzerne auf in die Liga der wertvollsten Unternehmen der Welt; unsere massenhaft abgefischten Daten sind da nur ein unerlässliches Hilfsmittel.
Der Wettbewerb in der Aufmerksamkeits-Ökonomie wird mit harten Bandagen geführt. Als Kollateralschaden bleiben unsere zunehmend gespaltenen Gesellschaften zurück: wutgeladen, polarisiert, deprimiert, desinformiert - und offen für politische Rattenfänger aller Couleur. Weil die Künstlichen Intelligenzen in den Supercomputern bei der Frage, was sie dem User als Nächstes anbieten, nur auf eines achten: Was fesselt? Was bringt Engagement? Was hält auf der Plattform fest? Die Antwort: Das, was am stärksten emotionalisiert. Und welche Gefühle sind am einfachsten zu wecken? Ängste. Und eng damit verbunden: Wut.
"Hate for profit"
Wer sich fragt, warum Bekannte auf einmal von Chemtrails faseln oder Bill Gates unterstellen, durch per Impfung implantierte Chips die Menschheit unterjochen zu wollen, findet hier zumindest einen Teil der Antwort. Wenn die Algorithmen neue Inhalte empfehlen, ist ihnen völlig egal, wie es um deren Wahrheitsgehalt steht und was sie bei den - gläsernen - Usern auslösen. Entscheidend ist allein: Bleibt der User auf der Seite? Um unsere Aufmerksamkeit zu monetarisieren werden in einer Art technologisch befeuerten Abwärtsspirale tendenziell immer die extremeren Inhalte verstärkt; die vielleicht etwas langweiligere "Stimme der Vernunft" hat das Nachsehen. Aktivisten haben für dieses Geschäftsmodell die Formel "hate for profit" gefunden ("Hass um des Gewinns willen"). Selbst wenn nur jeder Hundertste empfänglich ist für Verschwörungstheorien: Facebook hat weltweit über zwei Milliarden Nutzer, Youtube knapp zwei Milliarden.
Dabei steuern Soziale Medien als zentrale Informationsverteiler immer stärker, wie wir die Welt sehen und sie verstehen. Und während auf der einen Seite ungeprüfte und extreme Inhalte von den Rändern ins Innere der Gesellschaften gespült werden, verschwinden auf der anderen Seite die kuratierten und geprüften Informationen etablierter Medien immer häufiger hinter Bezahlschranken. Demokratie lebt von informierten Bürgern, die eine gemeinsame Gesprächsgrundlage haben. Wohin eine Gesellschaft desinformierter Menschen steuert, die keine gemeinsame Sprache mehr finden, kann man sich leicht vorstellen.
Unter öffentlichem Druck bessern Facebook, Google und Co. mittlerweile hier ein bisschen nach und stellen dort ein paar Studenten ein, um reaktiv die übelsten Auswüchse zu löschen. Aber das reicht nicht. Zum einen, weil die Social Media-Giganten global und in Hunderten von Sprachen operieren, die Prüfung von Inhalten aber im Wesentlichen nur in einigen westlichen Sprachen stattfindet. Ein Beispiel, bei dem sogar Facebook selbst eine Mitschuld einräumt: die Vertreibung der Rohingya aus Myanmar 2017. Das Soziale Netzwerk war derart zum Ort von Hassrede und Anstiftung zur Gewalt geworden, dass eine UN-Ermittlerin 2018 Facebook als "Monster" bezeichnete. Am Firmensitz im kalifornischen Menlo Park wird man über die Inhalte in anderen Sprachen Asiens und Afrikas kaum mehr wissen als 2017 über die burmesischen. Gleiches wird für den Youtube und weitere Konkurrenten gelten.
Regulieren wie die Strom- oder Wasserversorgung
Vor allem reicht der reaktive Ansatz nicht aus, solange der Unternehmenserfolg darauf beruht, ohne Rücksicht auf Verluste uns durch Ansprechen unserer niedrigsten Instinkte möglichst lange auf der Plattform zu halten. Mittlerweile spielen die Internetdienste eine derart zentrale Rolle in unseren Gesellschaften, dass sie genauso reguliert werden müssen, wie die Strom- oder Wasserversorgung. Für die allgemeine Gesundheit ist es sinnvoller, Trinkwasser aufzubereiten, bevor es in die Leitungen fließt, statt aufwändig Filter in jedem Haushalt zu installieren.
Mit der mindestens gleichen Sorgfalt sollten Soziale Netzwerke behandelt werden. Dabei geht es nicht darum, Inhalte zu "zensieren". Viel wäre schon gewonnen, wenn eben nicht allein die extremsten Inhalte gepusht würden. Noch mehr, wenn vorrangig angeboten würde, was uns weiterbringt - als Einzelne und als Gesellschaft. Zum Beispiel durch die Vergabe von Lizenzen mit der Maßgabe: Menschen vor Profiten. Unsere Aufmerksamkeit ist eine zu wichtige Ressource, um sie unreguliert den Konzernen zu überlassen. Vielen Dank für die Ihre.