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PolitikTunesien

Tunesien - vom Vorbild zum Sorgenfall

Sollich Rainer Kommentarbild App
Rainer Sollich
6. Juni 2022

Tunesiens Präsident Kais Saied hat kürzlich eigenmächtig 57 Richter entlassen. Damit schreitet der Rückbau von Demokratie und Rechtsstaat in dem Maghreb-Land weiter voran, meint Rainer Sollich.

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Protestierende tunesische Richter halten Plakate hoch
Seit Präsident Kais Saied an der Macht ist, wird in Tunesien das Rad des Fortschritts zurückgedrehtBild: Chedly Ben Ibrahim /NurPhoto/IMAGO

Tunesiens Präsident Kais Saied wurde 2019 vor allem für sein Versprechen gewählt, die Korruption zu bekämpfen. Eine verständliche Wahl, denn fehlende soziale Gerechtigkeit und grassierende Vetternwirtschaft sind Anliegen, die viele Menschen in Tunesien und der Region zu Recht aufregen und bewegen. 

Aber Korruptionsbekämpfung benötigt auch klare transparente staatliche Strukturen - im Idealfall in Form einer demokratischen Grundordnung mit funktionierender Gewaltenteilung, einschließlich unabhängiger Justiz. 

Ein Rückschritt für Tunesien

Tunesien, das "Geburtsland" des sogenannten Arabischen Frühlings, war auf diesem schwierigen Weg bis vor kurzem schon sehr viel weiter als die meisten anderen Länder der Region. Bürger anderer arabischer "Frühlings"-Staaten, wie Ägypten, mussten schon sehr früh einen massiven Rückbau demokratischer Rechte hinnehmen. Und auch in so unterschiedlichen Ländern wie Algerien, Saudi-Arabien oder Syrien verkörpern die Regime in ungebrochener Kontinuität bis heute zumeist genau das Gegenteil von Transparenz und Bürgerpartizipation. 

Doch seit Kais Saied an der Macht ist, wird auch in Tunesien das Rad zurückgedreht: Im vergangenen Jahr wurde auf Saieds Geheiß der Notstand ausgerufen und die Regierung gefeuert. Im Februar 2022 löste Saied - übrigens selbst Verfassungsrechtler - den Obersten Justizrat auf. Ende März schließlich stellte er endgültig das bereits seit acht Monaten suspendierte Parlament kalt.

DW-Redakteur Rainer Sollich
DW-Redakteur Rainer Sollich

Obendrein kam kürzlich die Entlassung von 57 Richtern hinzu. Auch dies war eine weitgehend eigenmächtige Entscheidung des autoritär regierenden Präsidenten, der für Ende Juli ein Verfassungsreferendum anstrebt, das unter den gegebenen Umständen kaum fair und transparent ablaufen dürfte.

Wo bleibt die Haltung Europas?

Die Europäer, die Tunesien seit der "Jasminrevolution" 2010 / 2011 stets als demokratisches Leuchtturm-Projekt gefördert hatten, nehmen diese Entwicklung bisher verstörend leise zur Kenntnis. Dabei entwickelt sich das bisherige Vorbild immer mehr zum Sorgenfall. Die darin liegende soziale und politische Sprengkraft - auch im Konflikt mit den bisher eher gemäßigt agierenden Islamisten - sollte auf EU-Seite deutlich ernster genommen werden. Tunesien ist unser Nachbar und eines der wichtigsten Länder für die Migration nach Europa.

Die bisherige Zurückhaltung der Europäer mag teilweise zwar verständlich sein, weil Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg die internationale Aufmerksamkeit massiv verschoben haben. Zudem mag eine Rolle spielen, dass der autoritäre Kurs des Präsidenten bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung - aber längst nicht bei allen Bürgern - durchaus auf Zustimmung trifft: Selbst Kritiker des Präsidenten dürften einen Teil der von ihm entmachteten Politiker und Juristen durchaus als potentielle Korruptionsfälle begreifen.

Dennoch sollte die EU gegenüber Kais Saied viel selbstbewusster auftreten, klare Worte sprechen - und vor allem auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln pochen. Das bedeutet auch, notwendige Hilfen für das wirtschaftlich kriselnde Tunesien bereitzustellen und diese bestmöglich an politische Bedingungen zu knüpfen.