1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Koalition der Mitte mit sozialer Ader

24. Oktober 2009

Die künftige Regierung aus CDU,CSU und FDP legt in Berlin ihren Koalitionsvertrag vor. Angepeilt wird eine Steuerentlastung trotz Rekordverschuldung. Westerwelle will Deutschland von Atomwaffen befreien.

https://p.dw.com/p/KBtr
CSU-Chef Horst Seehofer, der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle und die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, informieren in Berlin in einer Pressekonferenz über ihren Koalitionsvertrag. (Foto: AP)
Drei zufriedene Parteichefs auf gemeinsamem Kurs - vorerst jedenfallsBild: AP

Nichts ärgert die neue Koalition mehr als der ihr vorauseilende Ruf, sie werde den sozialen Kahlschlag vollführen. So betonte der künftige liberale Vizekanzler Guido Westerwelle bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages in Berlin: "All diejenigen, die vor der Wahl behauptet haben, Schwarz-Gelb, das sei so eine Art soziale Gefahr, die werden mit diesem Koalitionsvertrag eines Besseren belehrt."

Schwarz-Gelb belässt es deshalb nicht bei der schnell verkündeten eher symbolischen Geste, Langzeitarbeitslose durch die Erhöhung des sogenannten Schonvermögens besser zu stellen. Einen Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werde man aufspannen, verkündete die alte und künftige neue Bundeskanzlerin Angela Merkel.

"Wir halten Wort"

Krisenbedingte Milliardenausfälle bei den Sozialkassen wird der Staat übernehmen: "Die neue Regierung hält Wort, das wird aus der Koalitionsvereinbarung sehr deutlich. Wir erhöhen keine Steuern, wir setzen auf Wachstum, wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger."

Für Familien mit Kindern, Erben und Unternehmen treten kommendes Jahr Entlastungen von über 20 Milliarden Euro in Kraft, davon waren 14 Milliarden allerdings schon von der Vorgängerregierung beschlossen worden. Außerdem stopft die Regierung mit Steuermilliarden die Löcher in den Kassen von gesetzlicher Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Weil Deutschland 2010 bereits mit einer Rekord-Neuverschuldung von 76 Milliarden Euro rechnet, hatte die Koalition kurzzeitig erwogen, diese Sozialzuschüsse in einem Schattenhaushalt zu verstecken, die Absicht aber nach Protesten und Verfassungsbedenken wieder aufgegeben.

Eine große Steuerreform soll kommen

Der Koalitionsvertrag (Foto: AP)
Druckfrisch nach der letzten Verhandlungsrunde - der KoalitionsvertragBild: AP

Die Staatsfinanzen sollen im neuen Kabinett Merkel vom bisherigen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble verwaltet werden. Selbst Oppositionspolitiker loben diese Entscheidung, weil der Christdemokrat ein kompetenter Mann mit Mut zu unpopulären Entscheidungen sei. 2011 wolle die Regierung eine seit Jahren verschobene Reform des gesamten Steuersystems in Angriff nehmen, betonte CSU-Chef Horst Seehofer: "Wir betrachten seit jeher Steuerentlastungen als wichtigstes und nachhaltigstes Instrument für Arbeitsplätze und Wachstum."

Heftige Proteste von Sozialverbänden löst aber die Absicht der neuen Koalition aus, die gesetzliche Krankenversicherung anders zu finanzieren. Die Beiträge sollen nicht mehr einkommensabhängig, sondern für alle gleich sein. Nur Niedrigverdiener würden staatliche Zuschüsse bekommen. Dies orientiert sich am Vorbild der Schweiz, dort erhält allerdings bereits ein Drittel aller Versicherten staatliche Zuschüsse zum Krankenversicherungsbeitrag. Wegen der zunehmenden Zahl an Pflegebedürftigen soll in Deutschland auch eine verpflichtende private Zusatzvorsorge eingeführt werden.

Neulinge mit schwierigem Part

Den schwierigen Part des Gesundheitsministers übernimmt der Liberale Philip Rösler, jüngstes Mitglied und interessantestes Gesicht des Kabinetts. Der 1973 geborene Vietnamese wurde einst von einem deutschen Ehepaar adoptiert, studierte in Deutschland Medizin.

Das Außenministerium übernimmt FDP-Chef und Vizekanzler Guido Westerwelle selbst. In der Außenpolitik werde es nicht nur um Kontinuität gehen, sagte Westerwelle, beließ es aber erneut bei der bereits bekannten Ankündigung, dass Deutschland atomwaffenfrei werden solle und man deshalb Gespräche mit den Verbündeten führen wolle, ihre Sprengköpfe abzuziehen.

Die Liberalen stellen überproportional viele, nämlich fünf Minister, darunter auch den für Entwicklungszusammenarbeit. Die CSU bekommt drei Posten, die restlichen acht besetzt die Union. Verteidigungsminister wird der 37-jährige Karl-Theodor zu Guttenberg. Sein Urgroßonkel war einst am missglückten Attentat gegen Hitler beteiligt. Guttenberg ist in seinem neuen Amt unter anderem mit einer beschlossenen Verkürzung der Wehrpflicht und mit dem Ruf der NATO nach mehr Soldaten für den Afghanistan-Einsatz konfrontiert.

Entwicklungsministerium bleibt bestehen

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird weiterhin von einem eigenständigen Ministerium koordiniert und nicht dem Außenministerium zugeschlagen. Minister wird der bisherige FDP-Generalsekretär Dirk Niebel. Damit ist der künftige Außenamtschef Guido Westerwelle die Sorge los, im Entwicklungshilfeministerium könnte eine "Neben-Außenpolitik" betrieben werden. Ein Integrationsministerium gibt es auch künftig nicht, obwohl der Koalitionsvertrag die bessere Integration von Migranten zu einer Schwerpunktaufgabe erklärt.

Eine Bretterwand wird schwarz-gelb gestrichen (Foto: picture-alliance)
Neuer Anstrich für Deutschland

Mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit im globalen Zeitalter soll Deutschland zur "Bildungsrepublik" werden. 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen künftig in die Bildung und Forschung fließen. Ein Streitthema für die nächsten Jahre dürfte die Absicht der Koalition sein, die Laufzeiten von bestehenden Atomkraftwerken über das beschlossene Ausstiegsdatum zu verlängern. CDU-Chefin Merkel sieht Atomkraft als Brückentechnologie an:"Unser Ziel ist eine Energiepolitik aus einem Guss, die hinführt in ein völlig neues Zeitalter erneuerbarer Energien." Man ist auch bereit, Entwicklungsländern auf diesem Weg stärker zu helfen.

Rückzieher bei Mindestlöhnen droht

Trotz aller Bemühungen wird die Koalition den Vorwurf sozialer Kälte wohl nicht los werden. So wird es einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland - im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern - beispielsweise weiterhin nicht geben und die Zahl der Niedriglöhner wird wachsen, die nicht von der eigenen Arbeit leben können. Selbst die von der Union in der Großen Koalition mit den Sozialdemokraten beschlossenen Mindestlöhne sollen überprüft werden, inwieweit sie Arbeitsplätze vernichten. Noch zu Beginn der Koalitionsverhandlungen mit der FDP hatte Angela Merkel erklärt, sie denke nicht daran, die branchenbezogenen Mindestlöhne rückgängig zu machen.

Jetzt muss der Koalitionsvertrag nur noch durch die Parteibasis abgesegnet werden. Die FDP will dies bereits am Sonntag (25.10.2009) in Berlin auf einem Sonderparteitag erledigen. Einziger Tagesordnungspunkt ist die Entscheidung über den neuen Koalitionsvertrag. Am Montag wollen dann CDU und CSU auf Sonderparteitagen über den Koalitionsvertrag abstimmen. Auch bei den beiden Unions-Parteien wird eine klare Mehrheit erwartet. Wenn alles nach Plan läuft, könnte der Vertrag am Montagabend unterzeichnet werden. Die Wiederwahl von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Vereidigung des neuen Kabinetts sind für Mittwoch geplant.

Autor: Bernd Gräßler

Redaktion: Susanne Eickenfonder