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Politik

Merkel und wie sie die Welt sieht

Christoph Hasselbach | Michaela Küfner | Maximiliane Koschyk | Kay-Alexander Scholz
30. Dezember 2019

Das Ende von Angela Merkels Kanzlerschaft rückt näher. Was hat sie bisher bewirkt? Was will sie als Regierungschefin noch erreichen? Und was ist ihr Vermächtnis? Eine Bilanz.

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Angela Merkel | Geste
Bild: picture-alliance/dpa/J. Woitas

Schon oft wurde ihr vorzeitiger Abtritt vorhergesagt, vor allem, wenn die Koalition mit der SPD wieder einmal wackelte. Aber nach mehr als 14 Jahren ist Angela Merkel immer noch Bundeskanzlerin. Und sie will weitermachen, bis zum Ende der Legislaturperiode. Die Unterstützung der Öffentlichkeit hat sie: Trotz aller Kritik an der Arbeit der Großen Koalition wünscht sich eine große Mehrheit, dass Merkel bis 2021 im Kanzleramt bleibt.

"Sie kennen mich" ist einer der Merkel-Sätze, mit dem sie schon im Wahlkampf 2013 für sich warb. Er bedeutet: Auf mich ist Verlass. Bei mir weiß man, woran man ist. Der Satz zeigte auch, wie stark Merkel selbst im Mittelpunkt der politischen Debatte stand, wie sehr ganze Wahlkämpfe auf ihre Person zugeschnitten waren.

Dramatische Veränderungen

Deutschland und die Welt sind längst nicht mehr, was sie 2005 waren, als Merkel zum ersten Mal Kanzlerin wurde. In Deutschland ist die Politik so polarisiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In allen Bundesländern ist die rechtspopulistische AfD in den Parlamenten vertreten, im Osten oft als zweitstärkste Kraft, im Bundestag ist sie stärkste Oppositionspartei. Die alten Volksparteien, wie Merkels CDU und noch mehr die SPD, haben massiv an Zustimmung verloren.

Deutschland |  CDU und AFD Wahlplakate zur Bundestagswahl 2017
Bei Wahlen im Osten Deutschlands kommt die AfD heute Merkels CDU gefährlich nahe oder überholt sie sogar Bild: imago/Müller-Stauffenberg

Auch international ist die Lage deutlich fragiler geworden. "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei", sagte Merkel 2017, als der neue US-Präsident Donald Trump den Sinn der NATO infrage stellte. Ein Jahr zuvor hatte eine knappe Mehrheit der Briten für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU gestimmt.

Spätestens seit Brexit-Votum und Trump, glaubt der Merkel-Biograph Ralph Bollmann, sehe Merkel "eine sehr ernste Krise der westlichen Demokratien". Merkels Ziel für die letzten Monate im Amt ist laut Bollmann, "Deutschland und, soweit das in ihrer Macht steht, auch Europa und die Welt nicht im Chaos zu hinterlassen".

New York UNO Treffen Johnson Trump
Der britische Premierminister Boris Johnson und US-Präsident Donald Trump stehen für eine Welt, die Merkel nie wollteBild: Getty Images/AFP/S. Loeb

Eine große Visionärin war Merkel nie. Eklatant ist der Unterschied etwa zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Nach einer Reihe von EU-Reformvorschlägen, die mehr oder weniger an Merkel abprallten, mischte er zuletzt mit seinem "Hirntod"-Kommentar zur NATO die Debatte auf.

Hinter vorgehaltener Hand wünschen sich viele aus Merkels eigenen Partei, sie möge sich wenigstens ein bisschen von Macrons Führungslust anstecken lassen und, statt Krisen schlicht "abzuarbeiten", mehr eigene, deutsche Akzente setzen.

Frankreich Format Normandie Gipfel in Paris | Angela Merkel und Emmanuel Macron
Der französische Präsident Emmanuel Macron stellt Angela Merkel auf der diplomatischen Bühne in den SchattenBild: picture-alliance/abaca/C. Liewig

Zwischen Hassfigur und Retterin des Westens

Dennoch hat Angela Merkel einiges verändert, schon dadurch, dass sie in einer einst patriarchalischen Partei als Frau Karriere machte. Die Bezeichnung "Feministin" lehnt sie für sich bis heute ab. "Ich möchte mich nicht mit falschen Lorbeeren schmücken", erklärte sie in einem "Zeit"-Interview. Im Bundestag ist der Frauenanteil in den 14 Jahren ihrer Kanzlerschaft sogar deutlich gesunken, von 42 auf 31 Prozent.

Wenn Angela Merkel Sätze wie "Die Quoten waren wichtig, aber das Ziel muss Parität sein!" sagt, dann verschweigt sie, dass sie Forderungen aus ihrer eigenen Partei nach einer Frauenquote im Parlament blockiert hat. Andererseits hat sie andere Frauen gezielt gefördert: ihre designierte Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner.

100 Jahre Frauenwahlrecht
Von Angela Merkel unterstützt: Annegret Kramp-Karrenbauer, Ursula von der Leyen und Julia Klöckner Bild: picture-alliance/M. Schreiber

"Sie kennen mich", das suggerierte auch Konstanz. Tatsächlich entscheidet sie aber flexibel, vor allem "pragmatisch, aus der politischen Konstellation heraus", wie ihr Biograph Bollmann sagt. Als Physikerin glaubte sie an die Kernkraft - und beschloss nach dem schweren Atomunfall im japanischen Fukushima, aus der Atomkraft auszusteigen. Sie ließ eine Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare trotz eines "schlechten Bauchgefühls" zu. Und unter ihrer Regierung wurde die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt.

Doch nichts war und blieb bis heute so umstritten wie Merkels Entscheidung 2015, Deutschlands Grenzen für Hunderttausende Flüchtlinge offen zu halten. Das Parlament ließ sie dabei außen vor. Die AfD schoss sich regelrecht auf Merkel ein. Als es zu Gewalttaten durch Flüchtlinge kam, hieß es von der AfD, das seien "Merkels Tote". Für die einen wurde sie zur Hassfigur, für die anderen zur Retterin der westlichen Welt. Die Zeitschrift "Time" kürte sie Ende 2015 zur Person des Jahres, während rechte Demonstranten im eigenen Land "Merkel-muss-weg"-Spruchbänder hochhielten.

Deutschland Volksparteien verlieren an Zustimmung
Längst nicht jeder war und ist mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik einverstandenBild: picture-alliance/dpa/S. Willnow

Vertrauen ins politische System schwindet

Bei aller Polarisierung ist Merkel immer noch mit die beliebteste Politikerin Deutschlands, oft einsam an der Spitze. Kramp-Karrenbauer ist dagegen bei den Umfragen weit abgeschlagen. Aber Merkel weiß um die Kontroversen ihrer Politik. Vor der jüngsten Bundestagswahl hatte sie durchblicken lassen, dass sie mit sich gerungen hätte, noch einmal als Kanzlerkandidatin der Union anzutreten. In Wahlkämpfen macht sie sich inzwischen rar, bringt sich immer weniger in die Tagespolitik ein, absolviert vor allem Auslandstermine.

Der Grünenabgeordnete Jürgen Trittin glaubt, dass Merkel einen immer stärker europäisch geprägten Fokus hat: "Sie konzentriert alles auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft" in der zweiten Hälfte 2020. Außenpolitiker aus den eigenen Reihen wie Roderich Kiesewetter vermissen eine klare außenpolitische Linie: "Sie hat keine nationale Strategie, die transparent die deutschen Interessen, Stärken, aber auch Schwächen aufzeigt." Und: Deutschland müsse aufzeigen, so Kiesewetter, "wie man die eigenen Partner im Süden, in der Ukraine, aber auch im Nahen Osten stabilisiert".

Bundestag Reden Angela Merkel CDU
Sehen andere Kanzlerin Merkel so, wie sie sich selbst sieht? Bild: picture alliance/dpa/K. Nietfeld

Zahlen einer Allensbach-Umfrage vom Herbst zeigen allerdings, dass auch im eigenen Land das Vertrauen in die Politik schwindet. Nur noch 57 Prozent der Befragten sehen Stabilität als eine Stärke Deutschlands, 2015 waren es noch 81 Prozent. Und das bestehende politische System beurteilen gerade einmal 51 Prozent als Stärke der Bundesrepublik – nach 62 Prozent vor vier Jahren.

Selbstbild und Fremdeinschätzung

Was wird Merkels Vermächtnis sein? Bollmann glaubt, die Kanzlerin würde sich "gern als die Frau sehen, die Deutschland durch viele Krisen – Finanzkrise, Eurokrise, Ukraine-Krise, Flüchtlingskrise – relativ sicher geführt und die Stabilität des Systems einigermaßen bewahrt hat, daneben, das Land und die Partei liberaler, offener gemacht zu haben, allerdings um den Preis, dass wir jetzt eine rechtspopulistische Partei im Bundestag haben, die die Opposition gegen diese Form von Wertewandel verkörpert".

CDU-Bundesparteitag in Leipzig 2019
Hat Kramp-Karrenbauer das Format, nicht nur die CDU, sondern auch die Regierung zu führen? Viele bezweifeln dasBild: picture-alliance/AP Photo/J. Meyer

Viel Zeit für Gestaltung hat Angela Merkel nicht mehr, und mit ihrem langsamen Rückzug aus der Tagespolitik gibt sie zu verstehen, dass sie zumindest innenpolitisch auch nicht mehr viel gestalten will. Stattdessen überlässt die Kanzlerin dort das Feld mehr und mehr Kramp-Karrenbauer.

Ob diese tatsächlich Merkels Nachfolgerin als Kanzlerin wird, erscheint unterdessen zweifelhafter denn je, sogar Teile der CDU wenden sich offen gegen Kramp-Karrenbauer. Doch wer auch immer eines Tages Merkel ins Kanzleramt folgt, er oder sie wird in große Fußstapfen treten.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik