Migrantendrama an der Grenze Belarus - Polen
23. August 2021Seit zwei Wochen sitzt eine Gruppe Flüchtlinge aus Afghanistan im Wald an der polnisch-belarussischen Grenze fest. Ursprünglich handelte es sich um ungefähr 50 Personen, inzwischen wurden nach Aussagen des polnischen Grenzschutzes Frauen mit kleinen Kindern und einige Männer von belarussischen Grenzern zurück nach Belarus gebracht.
Am 23.08.2021 kampierten laut polnischem Grenzschutz noch ca. 24 Afghaninnen und Afghanen im Grenzgebiet. Sie sollen sich weigern, zurück nach Belarus gebracht zu werden. Nach Angaben von Unterstützerinnen und Unterstützern hätten 22 der Flüchtenden bereits am 20.08.2021 auf Englisch "internationalen Schutz" in Polen gefordert, was der polnische Grenzschutz aber ignoriert habe.
Zur Zeit halten sich die ca. 24 Flüchtlinge auf der winzigen Fläche von rund 30 Quadratmetern auf. Auf der polnischen Seite der Grenze werden sie von Grenzschützern bewacht, auf der belarussischen Seite von bewaffneten Soldaten mit Helmen und durchsichtigen Corona-Plastikschutzmasken vor den Gesichtern. Fahrzeuge des polnischen Grenzschutzes trennen die Flüchtlinge auch von den anwesenden Journalistinnen und Journalisten. Die dürfen sich den Migranten seit zwei Tagen nur noch auf 200 Meter nähern.
Die Afghanen leben unter freiem Himmel ohne Schutz vor den heftigen Regenfällen der vergangenen Tage. In einem kleinen Zelt, das ihnen ein polnischer Parlamentarier in der vergangenen Woche brachte, haben vier Frauen Schutz gefunden. Toiletten gibt es nicht. Die Menschen liegen oder sitzen zwischen den polnischen und belarussischen Uniformierten, die verhindern, dass sie sich von dem Platz im Wald wegbewegen.
Im Niemandsland
Der genaue Grenzverlauf ist dort, wo die Afghanen kampieren, nicht gekennzeichnet. Die polnischen Behörden behaupten, dass sich die Migranten auf belarussischem Territorium befinden. Deswegen sei Polen nicht für sie zuständig, bekräftigte Premierminister Mateusz Morawiecki am 21.08.2021. Nach internationalem Recht müsse ihnen Belarus Asyl gewähren.
Der belarussiche Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko spiele ein "zynisches Spiel, indem er Migranten an die EU-Außengrenze bringt", so Michal Dworczyk, der Leiter der Kanzlei des polnischen Premierministers. "Es geht darum, Chaos zu schaffen", so Dworczyk weiter. Im Interview mit dem staatlichen Fernsehsender TVP fügte er hinzu: "Wir haben es hier mit einer sehr grausamen Provokation der belarussischen Behörden zu tun. Sie ermöglichen Menschen, an die Ostgrenze der EU zu gelangen und versuchen dann, diese Menschen aus dem Land hinaus in die EU abzuschieben."
Die Flüchtlinge brauchen Hilfe
Ist das Migrantendrama an der Grenze zu Belarus wirklich nicht das Problem Polens? Die Aktivistinnen und Aktivisten der polnischen "Stiftung Rettung" (Ocalenie) sehen das anders. Ein paar Mal ist es ihnen gelungen, den Flüchtlingen Essen, Wasser und Hygieneartikel zukommen zu lassen. Doch je härter die Statements polnischer Politiker wurden, desto strenger wurde die Grenze kontrolliert.
Die Flüchtlingshelfer berichten, die Migranten hätten mit Zeichen und Gebärden kommuniziert, dass sie Hunger und Durst hätten und dass es unter ihnen Kranke gäbe. "Wir sind hier mit euch, ihr seid nicht alleine", rief ihnen die in Polen lebende Iranerin Mathia Golami per Megafon auf Persisch zu. Doch als die Afghanen versuchten zu antworten, hätte der polnische Grenzschutz die Motoren seiner Fahrzeuge aufheulen lassen.
Ärztin darf nicht zu den Flüchtlingen
Die polnische Ärztin und Aktivistin Paulina Bownik ist mit einem Karton voller Medikamente ins Grenzgebiet gereist - aber der Zugang zu den Flüchtenden im Wald sei ihr von polnischen Grenzern verwehrt worden, erzählt sie der DW. Aus Protest hat sie sich mit ihren Arzneimitteln auf eine Wiese in der Nähe gesetzt. "Es ist zum Heulen! Warum lassen sie mich nicht an diese hilfsbedürftigen Menschen heran? Es gibt offenbar Kranke unter ihnen. Als Ärztin bin ich dazu da, Menschen zu helfen. Ich werde doch niemanden entführen", sagt Paulina Bownik verzweifelt.
Auch die Einwohner des polnischen Grenzdorfes Usnarz Gorny finden es nicht gut, dass man Menschen unter freiem Himmel und ohne Toilette wochenlang im Wald dahinvegetieren lässt. "Es ist schändlich, dass sie unter solchen Bedingungen leben müssen, bei uns im Dorf haben es sogar die Hunde besser", sagt eine Dorfbewohnerin der DW. Trotzdem sie ist dagegen, die Afghanen nach Polen kommen zu lassen: "Wenn man die hier jetzt rein lässt, dann werden ihnen Tausende folgen", erklärt sie.
Angst vor den Fremden
Auch Jan Ejsmont findet es nicht gut, dass Menschen aus fremden Ländern in der Nähe seines Dorfs über die belarussische Grenze nach Polen kommen. "Früher hat man hier die Türen offen gelassen, jetzt überlegt man sich, ob man es weiter macht", sagt er der DW. "In einem benachbarten Ort ist vor kurzem eine Afghanin auf der Suche nach Essen in ein Haus gekommen, dessen Tür offen war. Stellen Sie sich vor, Sie kommen zurück nach Hause und da sitzt jemand am Tisch", erzählt der DW Ejsmonts 87jährige Cousine Helena, die alleine lebt.
Zwei junge Männer sind aus einem benachbarten Dorf gekommen, nachdem sie im Fernsehen einen Bericht über die Flüchtlinge im Grenzgebiet gesehen haben. Sie möchten die Afghanen am liebsten weiter nach Westen bringen, an die deutsch-polnische Grenze. Polen, wo Flüchtlinge mit keinerlei Sozialleistungen rechnen könnten, sei ohnehin ein Transitland für diese Menschen, meinen sie.
Mehrfacher Rechtsbruch
Dass die polnischen Grenzer nicht auf die Forderung der Afghaninnen und Afghanen nach Schutz reagiert haben, ist ein Bruch sowohl der UN-Menschenrechtskonvention als auch von EU- und polnischem Recht, meint dagegen Rechtsanwalt Tadeusz Kolodziej, der am 20.08.2021 bei den Migranten im Wald an der Grenze zu Belarus war. "Die Vorschriften sind eindeutig: Der Grenzschutz ist verpflichtet, derartige Anträge auch in mündlicher Form anzunehmen", sagt Kolodziej der DW.
Der Jurist und seine Kollegen haben die Anträge der Afghaninnen und Afghanen noch einmal schriftlich beim Grenzschutz in Bialystok, der Hauptstadt der Region auf der polnischen Seite der Grenze, eingereicht - doch auch dort wurden sie abgelehnt. "Wenn man Migranten nicht einreisen lässt und so schlimm behandelt, dann entstehen Probleme - und genau das ist das Szenario, dass sich Lukaschenko wünscht", so der Anwalt. Außerdem zeige das Beispiel der Gruppe aus Afghanistan deutlich, dass der EU-Staat Polen illegale "Pushbacks" betreibe.
Legalisierung von Pushbacks?
"Aus Gesprächen mit diesen Migranten geht hervor, dass sie sich bereits zuvor auf polnischem Gebiet befunden hatten, aber von Polens Grenzschutz aufgesammelt und zurück an die Grenze zu Belarus transportiert wurden", berichtet Kolodziej. In der vergangenen Woche hat die Regierung in Warschau neue Regelungen im Migrationsgesetz gebilligt, die Prozeduren beschleunigen, die Ausländer zum Verlassen Polens verpflichten, heißt es in der Begründung.
Die Gesetzesnovelle, die noch vom Parlament abgesegnet werden muss, ermöglicht es unter anderem, den Antrag auf internationalen Schutz unbeantwortet zu lassen, was internationalem Recht widerspricht. Laut der polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" soll zudem am 20.08.2021 eine "geheime" neue Verordnung in Polen erlassen worden sein, die das Zurückschicken von Asylbewerbern an den Grenzen erlaube. Kritiker sehen darin eine Legalisierung von Pushbacks durch die Hintertür.
Lukaschenkos Drohung
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat Ende Mai offen damit gedroht, Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Irak oder Syrien über die Grenze zu lassen. Seitdem haben Tausende auf diesem Weg die EU erreicht. Die Europäische Union wirft Belarus vor, die Migranten als Druckmittel gegen die EU-Sanktionen zu missbrauchen, die wegen der zugunsten von Lukaschenko gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus verhängt wurden. Die Führung in Minsk bestreitet das.
Die Regierungschefs Polens, Litauens, Lettlands und Estlands, die am 21.08.2021 über die Lage an den Außengrenzen berieten, erklärten, dass die derzeitige Krise vom Lukaschenko-Regime geplant und organisiert wurde. Sie forderten die Behörden in Minsk auf, Maßnahmen zu unterlassen, die zur Eskalation der Spannungen führen könnten. Lukaschenko warf derweil Polen bei einem Videogipfel der Staats- und Regierungschefs der postsowjetischen "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (ODKB) vor, einen Grenzkonflikt mit Belarus zu provozieren.
Immer mehr Flüchtlinge
Allein in Litauen, das eine 680 Kilometer lange Grenze zu Belarus hat, wurden in diesem Jahr bereits rund 4100 Menschen aufgegriffen - im Vergleich zu gut 70 im gesamten Vorjahr. Nachdem Litauen ein Gesetz verabschiedet hatte, das es seinen Grenzbehörden erlaubt, Migranten nach Belarus zurückzuschicken, wurden Gruppen von Flüchtlingen an die lettische und polnische Grenze umgeleitet.
Der polnische Grenzschutz gibt an, im vergangenen Jahr seien 122 Personen, welche die Grenze illegal überschritten hatten, festgenommen worden. Dieses Jahr seien es bereits etwa 780 gewesen. Bislang hat der Grenzschutz mehr als 2000 illegale Grenzübertrittsversuche registriert, von denen 1350 verhindert wurden. Am 23.08.2021 meldeten Grenzer, 84 weitere Menschen aus Afghanistan, Syrien, Jemen und Irak seien gestoppt worden.
Seit Anfang August setzt Polen an der Grenze zu Belarus auch rund 900 Soldaten zur Verstärkung des Grenzschutzes ein. Zudem wird immer mehr Stacheldraht an der Grenze verlegt. Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak twitterte am 23.08.2021, dass an der Grenze zu Belarus ein neuer massiver zweieinhalb Meter hoher Zaun errichtet werden soll.