Millionen Russen pilgern zum Nikolaus
14. Juli 2017Sie stehen. Wie festgewurzelt. Bis zu zwölf Stunden am Ufer der Moskwa. Egal, ob Kälte, Schnee oder strömender Regen in diesem verrückten Moskauer Sommer. Sie stehen. Bis tief in die Nacht. Selbst der Jahrhundertsturm Ende Mai mit mehreren Toten konnte sie nicht vom Stehen abhalten. Ihre Mission: zu berühren. Das was vom Heiligen Nikolaus von Myra übrig ist. Knapp ein Jahrtausend lang haben die Reliquien des Wundertäters das süditalienische Bari nicht verlassen. Nun kamen sie für sechs Wochen nach Moskau. Grund genug für fast zwei Millionen Pilger, um selbst aus den entlegensten Winkeln des größten Landes der Welt anzureisen. Stolze acht Kilometer lang war die Menschentraube dieser Tage vor der Christ-Erlöser-Kirche. Und das mitten in der Moskauer Innenstadt.
Überraschend kurz war die Wartezeit am letzten Tag vor dem Abflug der Reliquien zum Alexander-Newski-Kloster in Sankt Petersburg. Es regnet, wie eigentlich immer in den letzten Wochen. "Ich habe zuerst befürchtet, dass meine Mutter nicht so lange durchhält. Aber Gott sei dank hat es heute nicht so lange gedauert – wir standen nur zwei Stunden", sagt Natalija Popowa (33) erleichtert am letzten Tag. Die Soziologin kam zusammen mit ihrer 66-jährigen Mutter Marina aus dem 400 Kilometer entfernten Lipezk in die russische Hauptstadt. "Die Reise war lange geplant. Dass wir ausgerechnet am letzten Tag kamen, war Zufall", erzählt Popowa. In ihrem Rucksack trägt sie Regenkleidung und Verpflegung für mehrere Stunden. "Vor drei Jahren standen wir sogar über 13 Stunden im kalten Winter auf der Straße, um die Gaben der Heiligen drei Könige zu sehen."
Anstehen als Opfer
"Ich war auf Geschäftsreise in London, aber bin froh, dass ich es noch geschafft habe", sagt der Geschäftsmann Artur Limanskij. Wofür er selbst bete, wollte er nicht sagen. "Das ist persönlich - viele beten für ihre Familien und Freunde, für Frieden und Harmonie auf der Welt", antwortet Limanskij.
"Orthodoxe wenden sich in besonders ausweglosen Situationen an den heiligen Nikolaus. Auch für mich hat er eine besondere Bedeutung", so Swetlana Zolnikowa (41), die extra aus Kiew anreiste, um die Heiligtümer zu berühren. "Meine Frau befindet sich zurzeit im Krankenhaus. Ich will den heiligen Nikolaus um Hilfe bitten", verrät der 31-jährige Profisportler Anton Ponkraschow aus Kasan.
Sankt Nikolaus von Myra wurde Ende des 3. Jahrhunderts im antiken Myra geboren, auf dem Gebiet der heutigen Türkei. 1087 wurden seine Überreste von Piraten aus Bari geraubt, die sie in ihre süditalienische Heimat mitnahmen. Der Heilige wird gleichermaßen von der katholischen als auch von der orthodoxen Kirche verehrt. Im Westen als heimlicher Strümpfefüller am 6. Dezember bekannt, gilt er orthodoxen Christen als Wundertäter. Um die Person des Nikolaus ranken sich in Russland zahlreiche Legenden. So soll der in wohlhabenden Verhältnissen geborene Heilige nach seinem Tod sein gesamtes Vermögen an die Armen vermacht haben.
Der Vatikan hat vermittelt
Dass sein 'Besuch' in Russland überhaupt zustande kam, ist einem Treffen zwischen Papst Franziskus und dem Patriarchen Kyrill zu verdanken. Bei der Begegnung 2016 kam es zu einer Umarmung der beiden Kirchenoberhäupter - eine Geste der Annäherung nach jahrhundertelangen Spannungen zwischen den Kirchen.
"Der heilige Nikolaus wird vom russischen Volk verehrt wie kaum ein anderer. Er hilft Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft. Im Leben wie nach dem Tod", sagt Priester Alexander Wolkow, Pressesprecher von Patriarch Kyrill gegenüber DW. "Nach dem langen Anstehen wissen die Russen, dass sie etwas für sich und ihre Seele zurückbekommen. Je mehr Zeit sie durch das Anstehen opfern, desto mehr erhalten sie von Gott zurück. Es ist eine Art Opfer", so der PR-Mann. "Es besteht ein dogmatischer Unterschied zwischen der orthodoxen und der katholischen Kirche. Die gemeinsamen Heiligen haben jedoch so was wie eine Brückenfunktion", erklärt Wolkow.
Zurück in der Schlange vor der Christ-Erlöser-Kirche. Hier steht auch der 15-jährige Schüler Maxim Wladino, der jeden Sonntag in die Kirche geht. "In jeder Familie gibt es Gläubige - jedoch sind nicht alle in meinem Alter. Es gibt viele Atheisten und Agnostiker, jedoch auch Orthodoxe in meiner Klasse", so Wladino. "Wenn du glaubst, dann wird dich keiner daran hindern." Seine Mutter Olga hakt ein: "Das war zu früher anders. Meine eigene Mutter saß zu Sowjetzeiten im Gefängnis. Für ihren Glauben. Zu dieser Zeit wurden viele Kirchen zerstört", so die 48-Jährige. "Heute werden umgekehrt wieder viele Kirchen gebaut. Die neue Generation glaubt wieder."
Neues Leben für die orthodoxe Kirche
Jahrzehntelang durch den Staat unterdrückt, erlebte die orthodoxe Kirche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Wiedergeburt. Seit 1991 konnte sie ihren Einfluss auf die Gesellschaft kontinuierlich ausweiten. So stieg der Anteil der Russen, die sich als orthodox bezeichnen von 37 Prozent Anfang der 90er Jahre auf heute 71 Prozent. Umfragen zufolge genießt die Kirche mehr Vertrauen als etwa das Parlament oder die Justiz. Es werden wieder neue Kirchen gebaut. 2011 genehmigte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin den Bau von gleich 200 Kirchen auf einmal.
"Ich bin bereits das siebte Mal hier. Ja, Sie hören richtig", bestätigt Iljona Kosatschowa (47) am Ausgang der Kirche, aus deren Inneren melodische Chorgesänge tönen. Vor einer Woche wartete die Frau aus einem Moskauer Vorort sechs Stunden am Moskwa-Ufer. "Ich habe gefroren, gehungert, war komplett vom Regen durchnässt und habe im Bus geschlafen", ergänzt die 47-Jährige, die sich ohne zu Blinzeln eine Discountertüte über den halben Kopf zieht, um sich auf den Heimweg zu machen. Auch ihre Schuhe und ihr Körper schützt sind mit Plastiktüten vor der Nässe.
Putins Kalkül
Trotz des anhaltenden Regens verteilt Irina Kuratsch Wasser an die Wartenden. Die 31-Jährige ist eine von 20.000 orthodoxen Freiwilligen. "Einige arbeiten jeden Tag, andere nur ein paar Mal im Monat", so Kuratsch, die als Tennislehrerin ihr Geld verdient. "Einmal hat mich eine ältere Dame gefragt, wo genau Wladimir Putin während der Messe stand", so Kuratsch schmunzelnd. Die Antwort: im linken hinteren Winkel. Der russische Präsident Wladimir Putin besuchte die Kirche am 24. Mai, kurz nachdem die Heiligtümer eintrafen.
Wladimir Putin zeigt sich gerne in Kirchen. Zusammen mit dem Patriarchen Kyrill treibt er seit Jahren die Annäherung von Staat und Kirche voran. Anfang des Jahres wurde die Petersburger Isaakskathedrale, bis dato ein staatliches Museum, unter massiven Protesten an die Orthodoxe Kirche übergeben. Im Frühjahr 2016 reisten die beiden zusammen nach Griechenland, um die Gaben der Heiligen drei Könige auf Athos zu besuchen. Seit 2013 ist die "Verletzung religiöser Gefühle" in Russland strafbar. Erst im Mai wurde in Jekaterinburg der 22-jährige Blogger Ruslan Sokolowskij zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Sokolowskij hatte ein Youtube-Video gepostet, das ihn Pokemon Go spielend in der wichtigsten Kirche Jekaterinburgs zeigt. Daneben veröffentlichte er eine Reihe von Videos, in denen er sich als Atheist positionierte. Bis zur Verhandlung saß er acht Monate in Untersuchungshaft.
Nun ist es aus mit dem heiligen Nikolaus – zumindest für Moskau. Denn die Reliquien sind vor kurzem in St. Petersburg angekommen. Bis zum 28. Juli befinden sie sich im Alexander-Newski-Kloster, vor deren Toren weitere Tausende Gläubige stehen.