Warum die Deutschen die 80er Jahre so lieben
28. Dezember 2015Aus dem Radio tönen eindringlich genug zum Mitsingen Nenas "99 Luftballons", im Bonner Hofgarten bilden zehntausende Demonstranten eine Menschenkette für den Frieden und Punks mit Irokesenschnitt streifen durch Westberliner Szeneclubs. So stellen sich wohl viele die aufregenden, ja rebellischen 80er Jahre vor: Eine Zeit, in der in Politik, Kunst und Subkultur so viel passierte, wie in kaum einem anderen Jahrzehnt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Eine repräsentative Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presseagentur (dpa) ergab jetzt: Die 80er Jahre sind das Lieblings-Jahrzehnt der Menschen in Deutschland. Auf die Frage, in welcher Nachkriegsdekade sie leben wollten, antworteten 23 Prozent mit "80er", gefolgt von den 70ern (18 Prozent), den 90ern und 2010er Jahren (jeweils 13 Prozent). Weniger beliebt waren die 60er Jahre (9 Prozent), die Nullerjahre/2000er (5 Prozent) und die 50er Jahre (4 Prozent).
Die Studie überrascht nicht: Bücher über die Subkultur der 80er wurden in den letzten Jahren immer wieder zu Bestsellern. Ausstellungen über die Kunst der 80er in Deutschland wurden zu gehypten Events. Gerade erst zeigte das deutsche Fernsehen die Serie "Deutschland '83" – auch hier werden die Bilder von Röhrenjeans tragenden Zwanzigjährigen hervorgerufen, die politisiert auf die Straße gehen, sich gegen die Eltern auflehnen – und dazu reichlich Neue Deutsche Welle hören.
Berlin, die Kult-Stadt der 80er
Dass Berlin in den letzten Jahren für junge Leute immer wieder unter den Top drei der hippsten Städte der Welt bei Meinungsumfragen wie Youthfulcities landete, hat natürlich auch mit den 80ern zu tun: Denn viele der Berlin-Besucher wollen die Spuren der Mauer sehen, die einst die deutsche Hauptstadt teilte. In der Vorstellung vieler junger Leute heute machte sie das zu einem der aufregendsten Orte überhaupt – bis schließlich das historische Ereignis vonstatten ging, das die Deutschen - vielleicht weltweit - zum ersten Mal positiv in die Schlagzeilen brachte: Der Fall der Mauer. Und das in Folge einer friedlichen, gewaltlosen Revolution, bei der kein einziger Schuss abgefeuert wurde.
Die Jahre, die dem 9. November 1989 vorausgingen, waren hoch politisiert. So wie dies seither wohl kaum mehr der Fall war. Während in der DDR junge Menschen mit dem Ruf "Wir sind das Volk" für eine friedliche demokratische Neuordnung demonstrierten, begann sich auch die westdeutsche Jugend mit Beginn der 80er Jahre zu Friedenskundgebungen zusammenzuschließen. Mit Friedenscamps, Sitzblockaden und Menschenketten bekundeten sie ihren Unmut über das Wettrüsten der Supermächte und den Bau neuer Atomkraftwerke. An Jeans- oder abgewetzten Lederjacken trugen viele damals einen gelben Sticker, der längst Teil der Deutschen Geschichte geworden ist: eine lachende Sonne und der Spruch "Atomkraft? Nein danke!".
Das wohl berühmteste Ereignis: Im Oktober 1983 fanden sich rund 150.000 Menschen zu einer Demonstration gegen den NATO-Doppelbeschluss zusammen, auch Ex-Kanzler Willy Brandt war unter den Rednern, die sich gegen die Pläne der Bunderegierung positionierten, mit Atomsprengköpfen bestückter Raketen und Marschflugkörper in Westeuropa und auf westdeutschem Boden aufzustellen – darunter die berühmten Pershing II. Weniger bekannt ist: Trotz Friedensbewegung wurden die neuen Raketen wie geplant in Westdeutschland stationiert. Erst 1987 vereinbarten die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow und die USA eine schrittweise Abrüstung.
Und doch: Die Umwelt- und Friedensbewegung feierte in den 80ern nachhaltige Erfolge: 1983 zogen die Grünen in den Bundestag ein – mit selbstgestrickten Pullovern und Turnschuhen. Und etwa jeder fünfte Wähler unter 24 stimmte Anfang der 80er Jahre darüber hinaus bei Landtagswahlen für die neu gegründete Partei "Die Grünen" oder für alternative Wählerlisten. Während der politischen Umbrüche im Herbst 1989 schlossen sich dann Teile der ostdeutschen Friedensbewegung mit den westdeutschen Grünen zusammen. "Bündnis 90/ Die Grünen" heißen sie bis heute offiziell.
Neue sexuelle Freiheiten
Auch im gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität vollzog sich in den 80er Jahren eine Wende. Jenseits der Gesetzgebung – die sexuelle Handlungen zwischen Männern in der BRD weiterhin verbot, in der DDR übrigens nur unter Minderjährigen – wird in beiden deutschen Staaten Homosexualität zu dieser Zeit relativ offen gelebt. Man trifft sich in Kneipen, im Kino, in der Disco.
Doch zugleich ging ein Gespenst um: Aids . Die Krankheit wurde erstmals 1981 diagnostiziert, drei Jahre später der HI-Virus als Ursache identifiziert. Sowohl in der BRD als auch in der DDR starteten erste Kampagnen im Fernsehen und in Schulen. In der BRD wurden bis 1990 fast 42.000 Menschen mit HIV infiziert und mehr als 5000 erkrankten an Aids. In der DDR hatten sich lediglich 133 Bürger mit dem tödlichen Virus infiziert, 27 Menschen waren dort bis zum Zeitpunkt der Wende an Aids gestorben. Angst war ein beherrschendes Gefühl, nicht der Aufbruch, den heute viele mit den 80ern verbinden.
Der Muff der Nachkriegsjahre muss weg!
Und doch: Die spießbürgerliche Enge, die Deutschland vor allem in den 50er und 60er Jahren geprägt hatte, wurde in den 80ern endgültig gesprengt, ihre Konventionen abgestreift. Dafür steht bis heute vor allem Berlin. Die damals geteilte Stadt, die auch militärisch einen Sonderstatus genoss. Viele junge Männer im Westteil profitierten davon: In Berlin mussten sie keinen Wehrdienst leisten. Und in den mauernahen Vierteln wie Kreuzberg breitete sich eine Anarcho- und Punkszene aus, die schon bald auf die Kunstszene überspringen sollte.
In Berlin, Hamburg und Köln entstanden Künstlergruppen, die sich der festgefahrenen Avantgarde und dem starren Kunstbetrieb jener Zeit entziehen wollten. Sie brachen aus, verbündeten sich mit Anarchie und Punk, zeigten auch der Kunstszene den Mittelfinger, indem sie mit deren Konventionen brachen. Sie nannten sich "Die Jungen Wilden", wurden als "Neo-Expressionisten" bezeichnet, stellten selbst unter dem Begriff "Heftige Malerei" aus.
In Ost-Berlin wurden Viertel wie Prenzlauer Berg zum Tummelplatz der "Jungen Wilden", herunter-gekommene Altbauten bieten Platz für anarchistische Kreativität – noch bevor der Bezirk nach der Wende endgültig zur autoritätsfreien Zone, zum Laboratorium für neue Ideen wird, bevor Häuser besetzt und in alten Fabrikgebäuden wilde Partys organisiert und die Synthesizer voll aufgedreht werden.
Sehnsucht nach 99 Luftballons
Es ist eine Stimmung, die heute noch viele nach Berlin zieht, wohl wissend, dass es nicht mehr ganz so wild zugeht wie damals. Das gilt auch politisch: Die 80er boten - mitten in der Aufrüstungszeit des Kalten Kriegs und den autoritären Elternhäusern - wunderschön klare Feindbilder. Und noch heute die Identifikation mit jungen Rebellen, die tatsächlich etwas erreicht haben. Beim Mauerfall kommen bis heute nicht nur Deutschen die Tränen vor Rührung darüber, dass diese Wende letztendlich friedlich verlief.
Unsere heutige Welt ist an Herausforderungen sicherlich nicht ärmer geworden – man denke an den Ukraine-Konflikt und eine erneute Sprachlosigkeit zwischen Russland und dem Westen, an den Syrien-Krieg und internationalem Terrorismus, und nicht zuletzt an die Flüchtlingskrise. Menschenketten, die sich zum Frieden die Hände reichen wirken angesichts der politischen Fragestellungen heute fast schon naiv. Insgeheim würden offenbar aber viele Deutsche ganz gerne noch einmal Nenas 99 Luftballons in den Himmel steigen lassen.