Gezielte Provokation
23. September 2012Seit Jahren sorgt "Charlie Hebdo" in Frankreich mit bissigen Schlagzeilen für Aufsehen. Nun hat das Satire-Magazin nachgelegt. Obwohl die Stimmung in vielen muslimischen Ländern wegen eines islamfeindlichen Films aus den USA aufgeheizt ist, platzierte die Redaktion eine Mohammed-Karikatur auf der Titelseite der jüngsten Ausgabe. Sie zeigt einen im Rollstuhl sitzenden Muslim mit Turban, der Mohammed darstellen soll und von einem orthodoxen Juden geschoben wird. Außerdem befasst sich das Magazin auf mehreren Seiten mit dem Skandalfilm, der in den USA produziert wurde.
Sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung geht es auch in diesem Fall um den Umgang mit Meinungs- und Pressefreiheit - und Verantwortung der Medien. Während die französische Regierung um Deeskalation bemüht ist und vor Auswüchsen dieser Freiheiten warnt, verteidigt sich das Magazin mit dem Hinweis auf die Pressefreiheit. "Wir verstehen die Veröffentlichung dieser Karikaturen als Teil unserer Arbeit und als freie Meinungsäußerung", sagt Chefredakteur Gérard Biard der Deutschen Welle. Wenn sich die Schlagzeilen überschlagen - "also ein dummer Film fast überall auf der Welt zu Ausschreitungen führt, bei denen es Tote gibt und Botschaften brennen - wenn wir Journalisten das nicht kommentieren dürfen, wer dann?", argumentiert Biard.
Unter dem Deckmantel der Pressefreiheit?
Schirin Amir-Moazami von der Universität Berlin hat allerdings Zweifel an seinen Motiven. "Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wirklich darum geht, Pressefreiheit zu schützen", sagt die Islamwissenschaftlerin im DW-Gespräch. Es könne auch nur darum gehen, "Muslime nicht nur zu provozieren, sondern vielleicht auch zu zeigen, dass sie in diesem Land möglicherweise nicht wirklich willkommen sind". Amir-Moazami hat eher den Eindruck, dass die Zeitschrift, die Wut der Muslime weiter schüren will.
Bereits im November 2011 kam es zu Protesten vor der Redaktion von Charlie Hebdo, nachdem das Wochenblatt eine Sonderausgabe dem islamischen Recht, der Scharia, gewidmet hatte. "Die Zeitschrift ist bekannt für ihre Provokationen", sagt Amir-Moazami. Damals waren die Magazine an den Kiosken in Windeseile ausverkauft. Wie auch dieses Mal. Die wöchentliche Auflage liegt nach eigenen Angaben bei rund 75.000 Exemplaren. Die aktuelle Ausgabe mit den Mohammed-Karikaturen soll sogar in gleicher Höhe nachgedruckt werden.
Die Auflage fest im Blick
Asiem El Difraoui von der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist deshalb überzeugt, dass es den Blattmachern vor allem darum geht, die Auflage zu steigern. "Charlie Hebdo will so viel Medienöffentlichkeit, wie es eben möglich ist." Hinter der Veröffentlichung sieht er eine regelrechte Marketingstrategie.
Einiges spricht für die These Difraouis. Denn die 1970 gegründete Satirezeitung stand bereits mehrere Male vor dem Aus. Zwischen Ende 1981 und 1992 war das Blatt wegen Geldmangels vorübergehend sogar eingestellt worden. Sicherlich spielt Charlie Hebdo ein gefährliches Spiel. Dass die Homepage nach Veröffentlichung der neuen Karikaturen von Hackern vorübergehend außer Gefecht gesetzt wurde, dürfte noch das geringste Problem sein.
Regierung schließt Botschaften
Im vergangenen Jahr war auf die Redaktionsräume in Paris nämlich ein Brandanschlag verübt worden. Deswegen sichert die Polizei nun das Verlagsgebäude und stellte Herausgeber Stéphane Charbonnier unter Personenschutz. Weitaus brisanter könnten die Auswirkungen im Ausland sein. Die französische Regierung befürchtet weitere Unruhen in islamisch geprägten Ländern. Sie ist so beunruhigt, dass sie am Freitag (21.09.2012), dem Tag des wichtigsten islamischen Gebetes, in 20 islamischen Ländern Botschaften, Konsulate und Schulen schließen ließ. Das Presseecho in Frankreich auf die Veröffentlichung ist durchaus gespalten. Die unabhängige französische Tageszeitung "Le Monde" gesteht dem Satiremagazin das Recht zu, Religionen zu kritisieren oder gar lächerlich zu machen, aber "ihre Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt trägt dazu bei, Öl ins Feuer zu gießen, so dass man tatsächlich das Verantwortungsbewusstsein der Autoren und Herausgeber infrage stellen kann." Auch die katholische französische Tageszeitung "La Croix" äußert sich kritisch: "Gibt es nicht eine subtilere und lustigere Art, mit Karikaturen religiöse Fundamentalisten, Extremisten aller Art und den Skandal der gewaltsamen und mörderischen Protestkundgebungen anzuprangern?"
Erster Schritt auf gefährlicher Leiter
Die Pariser "Libération" dagegen verteidigt die Veröffentlichung: "Die Zeichner an ihre Verantwortung zu erinnern, sie zu ermahnen, vor der Veröffentlichung lange nachzudenken und dabei den geopolitischen Zusammenhang in Betracht zu ziehen, als ob sie Sprecher des Außenministeriums wären, ist ein erster Schritt auf eine gefährliche Leiter. Deren erste Sprosse ist die Selbstzensur, die letzte die Kapitulation." Wie auch immer die Diskussion in den Medien weiter geführt wird; für die rund fünf Millionen Muslime in Frankreich bleiben die Karikaturen eine Provokation.
Noch verhält sich die Mehrheit besonnen. Möglicherweise könne die Affäre aber radikalen Minderheiten wie den Salafisten von Nutzen sein, sagt Asiem El Difraoui. "Die Karikaturen oder auch der Film befeuern unterschiedliche Extreme: Charlie Hebdo ist glücklich über die Aufmerksamkeit, die sie durch die Veröffentlichung der Karikaturen erregen konnten. Und die radikalen Moslems sind glücklich, weil sie damit ins Licht der Weltöffentlichkeit rücken." Die Mehrheit der moderaten Muslime dagegen, die seit Generationen in Frankreich lebe, stehe in der Mitte. "Wahrscheinlich fühlen sich viele beleidigt und gekränkt. Das trägt natürlich nicht zur Integration der großen muslimischen Gemeinde Frankreichs bei", sagt El Difraoui, der sowohl in Deutschland als auch in Frankreich lebt.
Mögliche Auswirkungen auf die Banlieues
Außerdem befürchtet Difraoui, dass der Karikaturenstreit innenpolitisch missbraucht werden könnte. Die rechte Opposition versuche, Gewinn aus der Affäre zu schlagen, indem sie sich gegen muslimische Intoleranz positioniere. "Die Karikaturen werden von gewissen Politikern gefährlich politisch instrumentalisiert."
Gefährlich auch deshalb, weil sie neue Unruhen in den Pariser Vororten, den sogenannten Banlieues, auslösen könnten. Dort leben nicht nur viele Muslime, die Stadtteile gelten auch als soziale Brennpunkte: hohe Jugendarbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur und Kriminalität aller Art. Erst Ende 2005 standen sie nach massiven Unruhen in Flammen. Schirin Amir-Moazami von der Universität Berlin schränkt ein, dass nicht alle muslimischen Jugendliche in den Banlieues strenggläubig seien. Dennoch sieht die Islamwissenschaftlerin die Gefahr, dass sich die Jugendlichen "durch solche Veröffentlichungen zusätzlich provoziert fühlen könnten".