Montenegro: "Die EU muss dieses Land unterstützen"
16. April 2021Montenegro ist das erste europäische Land, das durch einen chinesischen Kredit in ernsthafte ökonomische Schwierigkeiten gerät: Es nahm 2014 einen chinesischen Milliardenkredit auf, um ein Teilstück der Autobahn zwischen Belgrad und dem montenegrinischen Hafen Bar zu bauen. Das Projekt ist eine der teuersten Autobahnen der Welt und eines der korruptionsbehaftetsten europäischen Infrastrukturprojekte, dessen Nutzen stark in Zweifel steht. Finanziell hat sich das 630.000-Einwohner-Land mit dem 944-Millionen-Dollar-Kredit völlig übernommen: Er macht derzeit fast ein Viertel der Gesamtschulden des Landes aus, die bei rund 100 Prozent des BSP liegen. Im Juli wird die erste Rate der Rückzahlung des Kredits fällig - und die neue Reformregierung weiß nicht, woher sie das Geld nehmen soll. Doch Hilfeersuchen der neuen Regierung unter Premier Zdravko Krivokapić an die EU lehnt Brüssel ab. Zu Anfang dieser Woche erklärte ein Sprecher der EU-Kommission, die Union zahle keine Schulden, die einzelne Länder bei Dritten aufgenommen hätten. Im DW-Interview kritisiert Dušan Reljić, einer der renommiertesten europäischen Westbalkan-Experten, diese Haltung.
DW: Wie bewerten Sie die Entscheidung, Montenegro nicht zu helfen?
Dušan Reljić: Die Aussage des Sprechers der EU-Kommission war sehr barsch, aber das letzte Wort ist sicher noch nicht gefallen. Es wird in der Sache sowohl von der EU als auch von Seiten Chinas Bewegung geben. China hat kein Interesse als diejenige rücksichtslose hegemoniale Macht dazustehen, als die sie im Westen oft dargestellt wird. Ich vermute, dass China Montenegro ein Umschuldungsangebot machen wird. Ähnlich wird es auch die EU machen. Eine Lösung wird zwar nicht beinhalten, dass man für die Schulden Montenegros aufkommt, aber ihre Rückzahlung erträglicher macht. Eines muss man aber sagen: Die barschen Worte des EU-Sprechers sind keine Art und Weise, wie geopolitische Ziele erreicht werden.
Welche Reaktionen werden solche Worte in der montenegrinischen Politik und Gesellschaft hervorrufen?
Reljić: Diese Äußerung hat nicht nur in Montenegro, sondern in der ganzen Region einen Widerhall gehabt. Man hat zur Kenntnis genommen, dass aus Brüssel viele freundliche Worte und Versprechen kommen. Aber wenn es kompliziert wird, reagiert man dort barsch. Nochmals: Es ist nicht das letzte Wort Brüssels. Aber der Schaden wurde angerichtet. Mit dieser Äußerung hat man allen externen Influencern, die zeigen wollen, dass man nicht auf die EU zählen kann, einen Ball zugespielt.
Wenn das letzte Wort nicht gesprochen ist, wie könnte dann eine Hilfe der EU für Montenegro aussehen?
Reljić: Ich denke, dass internationale Finanzinstitute wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in London, an der die EU ja beteiligt ist, oder die Europäische Investitionsbank (EIB), die Bank der EU, über viele Instrumente verfügen, mit denen sie eingreifen können, auch in diesem Fall.
Wäre die EU gut beraten, in dieser Sache die politische Initiative zu ergreifen und das auch öffentlich zu verkünden?
Ja. Denn man darf eines nicht vergessen: In Montenegro hat es einen Machtwechsel gegeben. Dreißig Jahre lang stand das Land unter der Herrschaft des jetzt noch amtierenden Staatspräsidenten Milo Djukanović. Unter seiner Ägide ist auch dieses Autobahn-Geschäft eingefädelt worden und es ist sehr viel Undurchsichtiges gelaufen. Man darf auch nicht vergessen, dass Djukanović das größte Zigarettenschmuggel-Netzwerk Europas mit aufgebaut hat. Jetzt muss die neue Regierung für alle Verfehlungen der Vergangenheit geradestehen. Wenn die EU zeigen möchte, dass ein demokratischer Wandel durch Wahlen in der Region möglich ist, dann ist sie gut beraten, diese neue Regierung trotz all ihrer Fehler, Unerfahrenheit und Heterogenität zu unterstützen.
Seit Jahren ist bekannt, dass korrupte Unternehmen aus dem Umfeld von Djukanović von dem Autobahnprojekt profitieren. Wie kann die EU Montenegro in der Schuldenangelegenheit helfen, ohne dass Korruption unterstützt wird?
Reljić: Korruptionsprobleme traten bei allen großen Infrastruktur- und besonders Autobahnprojekten in der Westbalkan-Region auf. Wenn man ein Umschuldungsprogramm entwirft, müsste man überprüfen, ob und wie Gremien wie die EU-Antibetrugsbehörde OLAF oder Interpol beteiligt werden können. Leider sind die Erfahrungen nicht gut, wie das Beispiel der so genannten "Patriotischen Autobahn" von Prishtina nach Tirana zeigt. Wenn der politische Wille fehlt, kann man Korruption nicht aufklären.
Der EU-Sprecher wies in seiner Stellungnahme auch darauf hin, dass die EU der größte Geldgeber Montenegros und der Region sei. Wie bewerten Sie die gegenwärtigen Finanzhilfen?
Tatsächlich will die EU der Westbalkan-Region in den kommenden sieben Jahren rund neun Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Aber man muss sich die Relationen klarmachen: Allein jedes Jahr hat die Region gegenüber der EU ein Handelsbilanzdefizit in Höhe dieser Summe, mehr als neun Milliarden Euro. Die Kluft wird durch die Corona-Pandemie noch größer. In den kommenden sieben Jahren werden die Einwohner der Westbalkan-Region pro Kopf etwa 500 Euro EU-Entwicklungshilfe bekommen, das habe ich kürzlich mit einem Kollegen durchgerechnet. In EU-Ländern ist es mehr als das Zehnfache. Dadurch werden die Diskrepanzen noch gewaltig zunehmen.
Sie fordern seit langem einen Zugang der Westbalkan-Region zu EU-Fonds.
Die Westbalkan-Staaten sind wirtschaftlich, sozial und geopolitisch längst vollkommen in die EU integriert. Die Optik in Brüssel muss sich grundlegend ändern, damit man versteht, dass diese Länder hoffnungslos zurückbleiben werden, wenn sie nicht behandelt werden wie EU-Mitglieder. Vor dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens gab es besondere Strukturfonds für diese beiden Ländern. Das wäre für die Westbalkan-Region noch viel notwendiger.
Die neue Regierung Montenegros hofft, dass sie der EU schnell und als erstes Land der Region beitreten kann. Ist das realistisch?
Nach dreißig Jahren Despotie, und man muss wirklich dieses Wort gebrauchen, ist es sehr, sehr schwierig, eine Verwaltung auf die Beine zu bringen, wie man es im Westen erwartet. Denken wir nur an den "tiefen Staat", die Sicherheits- und Geheimdienste, die personell an Djukanović gebunden sind. Montenegro ist zudem ein sehr gespaltenes und unterentwickeltes Land. Ich bin mir sicher, dass der Regierungschef Zdravko Krivokapić morgens oft mit dem Gefühl aufwacht, dass er abends vielleicht nicht mehr Premier ist. Die EU sollte diese Regierung unterstützen, um zu zeigen, dass positive Entwicklungen in der Region möglich sind. Wenn sie es nicht tut, dann wird sich der Eindruck der Menschen in der Region noch verstärken, dass die EU bereit ist, mit Despoten wie Djukanović oder dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić Geschäfte zu machen, und dann werden noch mehr junge Leute die Region verlassen, weil sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch keine Perspektive sehen.
Dušan Reljić ist Südosteuropa-Experte der Stiftung Wissenschaft und
Politik in Berlin, eines führenden Think Tanks für deutsche, europäische
und Geopolitik. Reljić arbeitete als außenpolitischer Journalist und
Bonner Korrespondent der jugoslawischen Nachrichtenagentur Tanjug und
später bei Radio Free Europe München. Er forscht vor allem zum
Westbalkan Region und der EU-Erweiterungspolitik in der Region.