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PolitikEuropa

"Moria darf sich nicht wiederholen"

17. September 2020

Flüchtlinge aufnehmen oder sofort ausweisen? Die Forderungen der EU-Parlamentarier sind extrem unterschiedlich. Die zuständige EU-Kommissarin verspricht eine "verpflichtende Solidarität". Bernd Riegert aus Brüssel.

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Coronavirus - Sitzung des EU-Parlaments in Brüssel
Debatte im leeren EU-Parlament: Wegen Corona sind nur wenige Abgeordnete präsentBild: picture-alliance/dpa/AP/V. Mayo

Die grüne Abgeordnete Terry Reintke hielt in der emotional aufgeladenen Debatte des Europaparlaments über das abgebrannte Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos ihr Mobiltelefon an das Mikrofon. Zu hören war der Asylbewerber Sabi auf Afghanistan, der Opfer des Brandes wurde. Sabi sprach in der Aufnahme von einer "extrem schrecklichen Situation" auf Lesbos. Er forderte die Europaparlamentarier auf: "Kommen Sie selbst mit ihren Familien her, versuchen sie auf der Straße zu schlafen, ohne Essen, ohne Wasser." Wie so etwas passieren könne, fragte Sabi in der Tonaufnahme. Man habe doch an die Einhaltung der Menschenrechte in Europa geglaubt.

EU-Parlamentspräsidentin Katarina Barley (SPD) unterbrach das Abspielen des Statements. Die Rednerin Terry Reintke wurde von Barley aufgefordert, selbst zu sprechen. Sie habe nicht das Recht, anderen das Wort zu erteilen oder es weiterzureichen.

Griechenland Lesbos | Umzug in neues Migranten-Lager
Während in Brüssel debattiert wird, versucht die Polizei auf Lesbos, tausende Asylbewerber in das neue Lager Kara Tepe zu bringenBild: Eurokinissi/Zuma/picture alliance

"Illegale ausweisen"

Die Antwort von der ganz rechten Seite des Europaparlaments auf Reintkes Beitrag kam prompt. Der Abgeordnete Ionannis Lagos von der rechtsextremen griechischen Partei "Goldene Morgenröte" behauptete, 500 illegale Migranten hätten das Lager Moria vergangene Woche angezündet. Es seien junge Männer, die Frauen vergewaltigen würden. Das "Märchen" von den armen Minderjährigen dürfe nicht weiter verbreitet werden. "Man sollte sie ausweisen und nach Hause schicken", ereiferte sich Lagos. "Warum gehen diese illegalen Muslime nicht in die reichen muslimischen Länder?", fragte er. Da platzte der linken Abgeordneten Malin Jörk von der schwedischen Arbeiterpartei der Kragen. Sie warf Lagos vor, Hass-Reden zu führen und verlangte einen Ordnungsruf. Parlamentspräsidentin Barley sagte eine Überprüfung zu.

Europaabgeordnete Sophie in 't Veld
Abgeordnete in't Veld: Was machen eigentlich die Griechen?Bild: imago/W. Dabkowski

Die Mehrheit der Abgeordneten forderte eine echte Veränderung der europäischen Asylpolitik hin zu mehr Menschlichkeit und mehr Solidarität. Eine Minderheit trat für die sofortige Schließung der Grenzen und die Zurückweisung von Asylbewerbern ein. In der kommenden Woche will die EU-Kommission Reformvorschläge vorstellen. Nach Vorstellungen des deutschen Innenministers Horst Seehofer (CSU), der zurzeit auch Präsident des Rates der europäischen Innenminister ist, sollen darin auch geschlossene"Asylzentren"an den Außengrenzen der EU enthalten sein.

"Kein neues Moria"

Die zuständige EU-Kommissarin für Migration, Ylva Johansson, versprach in der Parlamentsdebatte heute: "Keine weiteren Morias!" Man dürfe nicht akzeptieren, dass Asylbewerber unter solchen Bedingungen leben müssten. "Wir brauchen neue dauerhafte und ordentliche Aufnahmezentren." Zwölf EU-Staaten hätten Griechenland inzwischen Soforthilfe zugesagt, um die Bedingungen für die 12.000 Obdachlosen auf Moria zu verbessern. Ylva Johansson sagte, inzwischen sei ein neues Camp mit 5000 Plätzen entstanden, in das aber erst 800 Menschen eingezogen seien. "Das dauert alles sehr lange, auch weil die Menschen Angst haben, dort hinzugehen", räumte Johansson ein.

Ioannis Lagos Abgeordneter im Europäischen Parlament
Der rechtsextreme Abgeordneter Lagos spricht von jugendlichen Brandstiftern in Moria (Archivbild)Bild: Imago Images/Pacific Press Agency

Im europäischen Migrationspakt, den sie nächste Woche vorschlagen wird, werde von allen Mitgliedsstaaten eine "verpflichtende Solidarität" gefordert werden, kündigte die EU-Kommissarin an. Das heißt, dass entgegen der Forderungen aus dem Parlament nicht alle Staaten Asylbewerber aufnehmen müssen. Einige Staaten, wie etwa Polen, Ungarn oder Österreich, könnten sich auch mit Sachleistungen und Geldzahlungen solidarisch zeigen und sich so aus der Affäre ziehen. Ylva Johansson sagte, man wolle künftig mehr Wert auf eine schnelle Rückführung abgelehnter Asylbewerber legen. Immerhin würden zwei Drittel der ankommenden Migranten als "nicht schutzbedürftig" eingestuft.

EU-Kommissarin Johansson widersprach der Darstellung rechtspopulistischer Abgeordneter, die Migranten hätten Moria selbst angezündet. "Wie das Feuer entstand, ist nicht klar. Ich will nicht spekulieren." Griechische Behörden haben allerdings bereits Anklage gegen zwei mutmaßliche Brandstifter aus Afghanistan erhoben.

Belgien Brüssel | Pressekonferenz | Ylva Johansson
EU-Kommissarin Johansson: Neue ordentliche Lager sind nötig (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa/T. Monasse

"Griechen tragen Verantwortung"

Die Abgeordnete Sophia in't Veld kritisierte die Rolle der griechischen Regierung. "Wo sind die vielen Hundert Millionen Euro geblieben, die als Hilfe für die Unterbringung und die Asylverfahren von der EU zugesagt wurden?" fragte die Liberale aus den Niederlanden in der Debatte. Die Verfahren auf Moria seien zwar ein europäisches, aber eben auch ein griechisches Problem. 2000 Menschen auf Lesbos hätten bereits einen positiven Asylbescheid und durften die Insel trotzdem nicht verlassen. "Das ist willkürliche Haft in einem Lager", wetterte In't Veld. Und diese hat der Europäische Gerichtshof erst im Mai in einem Verfahren gegen Ungarn für unzulässig erklärt.

Die für Migration zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson warnte am Ende der Aussprache vor einer "Dramatisierung" des Themas angesichts der absoluten Zahlen von Asylbewerbern und der Größe der EU. Die Übertreibungen führten zu einer verzerrten Wahrnehmung, sagte sie in Richtung der rechten Abgeordneten im Europaparlament. "Nicht Europa ist in einer Krise, sondern die Migranten erleben eine Krise."

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union