Mossul: Was kommt nach dem IS?
27. Juni 2017Musiker sitzen auf der Terrasse eines Hotels in Erbil. Sie stammen aus Mossul. Hier, in der Hauptstadt der kurdischen Regionalverwaltung im Nordirak, haben sie Zuflucht gefunden vor dem sogenannten Islamischen Staat. Aber sie denken an Rückkehr: Sie bereiteten, berichten sie dem kurdischen TV-Sender Rudaw, ein Musikfestival für die Zeit nach der Befreiung Mossuls vor.
Sehr lange werden die Musiker wahrscheinlich nicht mehr warten müssen. Die Zeichen eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs der Dschihadistenmiliz in der zweitgrößten Stadt des Iraks mehren sich – auch wenn nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, noch immer rund 100.000 Menschen von den verbliebenen Kämpfern als menschliche Schutzschilde missbraucht werden und die Kämpfe in den Resten der vom IS gehaltenen Altstadt mit großer Härte und Brutalität geführt werden.
Das Ende des IS ist nicht das Ende der Konflikte
Aber mit der Vertreibung des Islamischen Staats aus seiner inoffiziellen Hauptstadt werden die Probleme nicht gelöst sein. Nicht allein, weil über eine halbe Million Menschen seit dem Beginn der Offensive auf Mossul im letzten Herbst von den Kämpfen vertrieben wurden. Nicht, weil es Jahre dauern wird, bis die Bedingungen zu ihrer Rückkehr geschaffen sind. Sondern vor allem, weil die Vertreibung des Islamischen Staates aus dem Nordirak ein gewaltiges Machtvakuum hinterlässt - ohne dass bislang Regelungen getroffen sind, wer das füllen wird. Das wiegt schwer. Denn in der Anti-IS-Koalition sind neben ausländischen Akteuren wie den USA eine Vielzahl lokaler Gruppen eingebunden, die abgesehen von der Vertreibung des IS sehr unterschiedliche Ziele verfolgen.
Es gibt Kräfte, die unter Kontrolle der Regierung in Bagdad stehen: Anti-Terror-Einheiten unter dem Befehl des Premierministers und Truppen, die zum Verteidigungs- oder dem Innenministerium gehören. Es gibt verschiedene paramilitärische Milizen der schiitisch dominierten "Volksmobilisierungskräfte", manche mit, manche ohne Verbindungen zum Iran. Dann sind da die kurdischen Peschmerga: Einige gehören der "Demokratischen Partei Kurdistans" an, der Regierungspartei in Nordiraks autonomer Region Kurdistan. Andere der heftig rivalisierenden "Patriotischen Union Kurdistans". Als wäre das nicht genug, haben noch verschiedene lokale sunnitische Stämme eigene Milizen aufgestellt und in die Schlacht geworfen.
Rayk Hähnlein von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bestätigt im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Einigermaßen klar ist man sich einzig und allein darüber, dass diese im Schwerpunkt arabische Stadt nicht dauerhaft von kurdischen oder auch von schiitischen Verbänden gehalten werden kann. Was das dann aber in der Praxis bedeutet, das ist noch unklar", so Sicherheitsexperte Hähnlein.
Kurdisches Autonomiestreben
Kurdische und schiitische Milizen haben bei den Kämpfen innerhalb Mossuls kaum eine Rolle gespielt. Aber: Sie haben im Umfeld der Millionenstadt heftige Kämpfe geführt - und werden einen Preis für den gezahlten Blutzoll fordern. Die Kurden im Nordirak sehen einen historisch günstigen Moment, ihre Autonomie auszubauen. Für den 25. September haben sie ein Unabhängigkeitsreferendum angesetzt. Der Irak-Experte Renad Mansour von der britischen Denkfabrik Chatham House weist gegenüber der Deutschen Welle auf ein pikantes Detail dieser Abstimmung hin: Die soll nämlich auch in den sogenannten "umstrittenen Gebieten" durchgeführt werden, etwa in der ölreichen Region um Kirkuk herum.
Die schiitischen Milizen haben vor allem westlich von Mossul gekämpft, dort die Verbindungsstraße von Mossul Richtung Syrien unterbrochen. Da diese Verbände für den Kampf gegen den IS geschaffen worden waren, wäre es logisch, sie nach dessen Ende aufzulösen. Zumindest die größeren Milizen aber, so erwartet Irak-Experte Mansour, werden sich einer Demobilisierung widersetzen und sich andere Aufgaben suchen - möglicherweise entlang der syrisch-irakischen Grenze. SWP-Mann Hähnlein beziffert die Zahl der schiitischen Milizionäre im Irak auf rund 100.000 Mann - und verweist auf deren starke Verbindungen zum Iran, der hier "massiv versucht, am Boden Einfluss zu gewinnen".
Nach dem IS in Syrien
Eine ähnliche Problematik wie in Mossul zeichnet sich auch im Norden und Osten Syriens ab. Die IS-Hauptstadt Rakka ist schwer bedrängt und wird vermutlich bald fallen. Die Hauptlast des Angriffs wird hier von den Kämpfern der Syrisch Demokratischen Front getragen. Die gehören wiederum mehrheitlich der syrischen Kurdenpartei PYD an. "Die PYD, die drei Kantone im Norden hält und die als ihre Region versteht, leitet aus ihren Erfolgen schon so etwas wie ein Recht auf Autonomie oder sogar Unabhängigkeit ab", analysiert Rayk Hähnlein. Die USA betrachten die Kurden als nützliches Instrument im Kampf gegen den IS, versorgen sie mit Waffen und Geheimdienstinformationen.
Für die Türkei, den NATO-Verbündeten der USA, hingegen ist die PYD wegen ihrer Nähe zur kurdischen PKK eine terroristische Vereinigung, die sie als noch gefährlicher ansieht als den IS. Renad Mansour erwartet, die syrischen Kurden zielten darauf ab, mit der Eroberung von Rakka den USA ihre Treue zu beweisen und ihre Verhandlungsposition zu stärken. Allerdings bewertet Mansour die Partnerschaft zwischen den USA und der Türkei trotz aller Schwierigkeiten als so stark, dass er für die Kurden große Probleme bei der Durchsetzung ihrer Pläne sieht: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die USA nach der Vertreibung des IS in Nordwestsyrien tatsächlich ein Autonomieprojekt erlauben würden", urteilt Mansour.
Zankapfel Ölprovinz Deir az-Zor
In und um Rakka sowie der noch in weiten Teilen vom IS beherrschten Provinz Deir az-Zor braut sich noch mehr zusammen. Hier kommen sich im Rennen um die günstigsten strategischen Positionen im Nach-IS-Syrien die syrische Armee, ihre irakischen Unterstützer und russische Flugzeuge auf der einen Seite sowie amerikanische Spezialeinheiten und SDF-Kämpfer auf der anderen Seite gefährlich nahe. SDF steht für Syrian Democratic Forces, es sind die regimefeindlichen demokratischen Kräfte Syriens gemeint. Damit wächst auch die Gefahr einer direkten Konfrontation, unterstreicht Rayk Hähnlein: "Wir sahen das in den letzten Wochen: Die Amerikaner haben ein syrisches Kampfflugzeug abgeschossen, sie haben iranische Drohnen abgeschossen. Die Russen haben harsch reagiert und erklärt, dass Flugzeuge der westlichen Allianz künftig den Bereich westlich des Euphrat nicht mehr zu überfliegen haben. Das sind schon relativ deutliche Signale, dass es dort konfrontativer wird", meint der Politikwissenschaftler aus Berlin.
Zum Zankapfel könnte speziell das ölreiche Deir az-Zor werden. Die syrische Armee versucht, Stadt und Provinz vor den Kämpfern der SDF zu erreichen. Einer dieser Vorstöße hat bei der Stadt Tanf im syrisch-jordanisch-irakischen Grenzgebiet bereits zu direkten Gefechten zwischen syrischen Truppen und Amerikanern geführt. Die USA unterhalten dort auf syrischem Boden ein Ausbildungscamp für Assad-Gegner. Mit den Russen haben die USA im Umkreis von 50 Kilometern um Tanf eine Schutzzone vereinbart. Pro-Assad-Kräfte werden zur Not mit Waffengewalt aus dieser Zone herausgehalten.
Auch auf der nördlichen Route der syrischen Armee Richtung Deir-az-Zor kam es bei der Stadt Tabqa zu Gefechten. Diese Route führt so nahe an Rakka vorüber, dass sich syrische Armee und SDF begegneten - und aufeinander schossen. Hier wurde auch das syrische Kampfflugzeug abgeschossen. Renad Mansour drückt die Widersprüche so aus: "Die fundamentalen Probleme, die Wurzeln der Probleme wurden immer überlagert davon, dass alle Seiten gegen den IS waren. Aber wenn man den IS aus der Gleichung entfernt, kommen all diese Probleme wieder an die Oberfläche."