Der "Königsmacher" von Bagdad
15. Oktober 2021Keine triumphalen Gesten, kein großer Auftritt, stattdessen zur Kenntnis nehmen der Ergebnisse der irakischen Parlamentswahl in demonstrativer Bescheidenheit: Die Bilder, die die internationalen Presseagenturen von Muktada al-Sadr nach dem Sieg seines Bündnisses bei der irakischen Parlamentswahl übermitteln, deuten auf den Willen des Schiitenführers zu politischer Demut hin, jedenfalls nach außen. Den Jubel überlässt er seinen Anhängern, er selbst gibt sich als Politiker, dem die Verantwortung des Machtzuwachses bewusst ist - eine Verantwortung, die allzu selbstbewusste Gesten offenbar verbietet.
Über 70 von insgesamt 329 Parlamentssitzen hat Sadrs Bündnis "Sairun" ("die Laufenden, die Marschierenden") errungen - eine deutliche Steigerung gegenüber dem Ergebnis des Jahres 2018, als die Bewegung 54 Sitze holte und sich bereits damals als stärkste politische Kraft etablieren konnte.
Berühmter Vater
Das Erfolgsrezept des Geistlichen hat viele Komponenten: So ist al-Sadr Sohn des Großajatollah Muhammad Sadik al-Sadr, eines hohen schiitischen Würdenträgers, der sich politisch gegen den 2003 gestürzten Diktator Saddam Hussein engagierte - und dieses Engagement 1999 mit dem Leben bezahlte.
Den Mut des Vaters erbte der Sohn, wenn auch nicht dessen religiöses Ansehen. Nachdem die Amerikaner 2003 in den Irak einmarschierten, stellte sich Muktada al-Sadr mit seinen Anhängern gegen die Interventionsmacht. Seine Anhänger fügten den US-Truppen schmerzhafte Verluste zu. In der Folge wurde al-Sadr zu einem der meist gesuchten Männer der amerikanischen Geheimdienste im Irak. Selbst politische Gegner zollten ihm seinerzeit immer wieder Respekt für seine Rolle im Kampf gegen die amerikanische Besatzung.
Geschickte Selbstdarstellung
Zudem punktete der schiitische Prediger durch seine betont überkonfessionelle Position, die Sunniten, wie er wiederholt erklärte, keineswegs ausschließe. Einerseits spielten konfessionelle Aspekte für den Politiker al-Sadr "keine große Rolle", sagt Irak-Experte Daniel Gerlach, Chefredakteur des deutschen Nahost-Magazins Zenith. Doch andererseits, so Gerlach weiter, "hätte er natürlich seine derzeitige Macht nicht, wenn es im schiitischen Lager nicht eine schiitische, konfessioneller Solidarität gäbe, die ihn politisch stärkt." Dennoch würde al-Sadr nur schwerlich auf den Gedanken kommen, sich selbst als Schiiten-Führer zu inszenieren. Er präsentiert sich lieber als Vertreter des gesamten irakischen Volkes. "Das ist letztendlich die Rhetorik, die er immer wieder an den Tag legt." Dass er zugleich aber auch schiitische Identifikationsfigur ist, demonstriert er durch den schwarzen Turban der Nachfahren des Propheten, den er fast immer trägt.
Kritisch gegenüber Iran und USA
Hatte sich al-Sadr zunächst gegen die Präsenz der Amerikaner gestellt, wandte er sich in jüngerer Zeit verstärkt gegen die des Iran. Dieser versucht, über verschiedene Milizengruppen sowie Kontakte ins Umfeld der irakischen Regierungsspitze, Einfluss auf die Politik des Nachbarlandes auszuüben. Als im Herbst 2019 Proteste gegen die zahlreichen Missstände des Landes - Korruption, mangelhafte Infrastruktur, Versorgungsengpässe unter anderem beim Trinkwasser - entflammten, unterstützte al-Sadr die Demonstranten gerade auch dann, als irakische Sicherheitskräfte wie auch iranisch gesteuerte Milizen massiv gegen diese vorgingen. Seine eigene Zugehörigkeit zur schiitischen Richtung des Islam bedeutet keineswegs, dass er sich politisch oder religiös der selbst ernannten regionalen schiitischen Schutzmacht Iran unterwerfen würde.
Nach Zerschlagung der Proteste vor bald zwei Jahren forderte er den damaligen irakischen Premier Adil Abdul Mahdi über Twitter zum Rücktritt auf. In jenem Herbst 2019 kamen iranische Geheimdienstberichte ans Licht, denen zufolge Abdul Mahdi eine "besondere Beziehung" zur Islamischen Republik Iran habe. Der Premier trat im November jenes Jahres von seinem Amt zurück. Spätestens seitdem betrachten auch Teile der überkonfessionellen Protestbewegung al-Sadr als einen ihr tendenziell gewogenen Politiker, wenn auch nicht als direkten Verbündeten. Allerdings spielten al-Sadrs Anhänger ein doppeltes Spiel: Einerseits griffen sie die Protestbewegung an - andererseits inszenierten sie sich als deren Beschützer.
Kritiker des Systems - oder Teil davon?
"Al-Sadr präsentiert sich als Volkstribun und Speerspitze des Widerstands gegen Unterdrückung, Korruption und weitere Missstände. All dies verschafft ihm in den Augen seiner Anhänger eine hohe Legitimation", sagt Daniel Gerlach, der sich derzeit als Berater im Irak für den Nationalen Dialog engagiert.
Ungeachtet dessen ist al-Sadr aber auch zutiefst in das Machtgefüge des irakischen Staats verwoben: Seine Vertrauten sitzen in hohen Staats- und Regierungsämtern, fungieren als Vizeminister sowie in leitenden Funktionen etwa im Öl- und Bankengeschäft. Seit 2018, so ein Papier des Londoner Think Tanks Chatham House, besetzten al-Sadrs Leute rund 200 Spitzenposten unterhalb der Ministerebene. Inzwischen seien solche "Sadristen" in jeder Institution des Staates, sagte kürzlich einer seiner engen Vertrauten, der Politiker Nassar al-Rubbaie, der Nachrichtenagentur Reuters. Ein anderer Vertrauter, der schiitische Geistliche Hazem al-Aaraji, lobte al-Sadr als mächtigsten Mann im Irak.
Cleverer Populist
Auch das Changieren zwischen der Staatsmacht und ihren Kritikern zählt zu den Grundlagen für al-Sadrs Erfolg. Als Populist beweise er immer wieder Cleverness, so Gerlach. Einerseits bestimme er die Politik der Regierung durch seinen Einfluss durchaus mit. Andererseits kritisiere er die Regierung öffentlich für politische Entscheidungen, die in der Bevölkerung nicht gut ankämen.
Nach den Parlamentswahlen ist Al-Sadr - er selbst hatte weit im Vorfeld der Wahlen erklärt, nicht als Premierminister antreten zu wollen - in die Rolle des "Königsmachers" getreten. Letztlich wird es von ihm abhängen, wer neuer irakischer Regierungschef wird. Auf diesen warten zahlreiche Herausforderungen. Der Kampf gegen die von der Protestbewegung genannten Missstände dürfte ebenso dazu gehören wie der Versuch, im Irak einen allzu dominierenden Einfluss sowohl des Irans wie auch der USA zu verhindern und zu beiden Staaten ein Verhältnis auf Augenhöhe zu etablieren.
Doch wer immer dieser Posten ausfüllen wird, eines dürfte seinen "Sadristen" fortan schwerer fallen, meint Daniel Gerlach: im Zentrum der Macht zu stehen - und sich zugleich als Speerspitze einer auch außerparlamentarischen Opposition zu positionieren. Regieren heißt, Entscheidungen zu treffen. An den jüngsten Parlamentswahlen haben sich nur 41 Prozent der Iraker beteiligt. Absehbar wird al-Sadr erfahren, was die übrige Bevölkerung von seinen Entscheidungen hält.