Erdbeben: Unfreiwillige Rückkehr nach Syrien
24. Februar 2023Zehn Tage lang nach dem schweren Erdbeben der Stärke 7,8 waren Ahmed und seine Familie gezwungen, in der südosttürkischen Stadt Adiyaman auf der Straße zu leben. Nachdem er jahrelang versucht hatte, in seiner Wahlheimat ein Leben für sich und seine Familie aufzubauen, hat Ahmed dann schließlich beschlossen, dass er keine andere Wahl habe, als in sein Geburtsland Syrienzurückzukehren.
"In der Türkei hatte ich nichts mehr. Aber in Syrien habe ich wenigstens einige Freunde und Verwandte", erzählt er. Ahmed sitzt beim Gespräch mit der DW im Haus eines Freundes in den von verschiedenen Rebellenmilizen kontrollierten Gebieten Nordsyriens. Aus Sicherheitsgründen will er weder seinen genauen Aufenthaltsort noch viele Details über sein Leben oder seinen vollen Namen nennen.
Vor einigen Jahren floh der ehemalige Fabrikarbeiter vor dem Krieg in seinem Heimatland. Doch nach dem verheerenden Erdbeben, das am 6. Februar die türkisch-syrische Grenzregion erschütterte, wurde das Haus, in dem Ahmed lebte, ebenso schwer beschädigt wie der Betrieb, in dem er gearbeitet hatte.
Diskriminierung von Syrern
Als unmittelbar nach dem Erdbeben Zelte verteilt wurden, sind er und seine Familie leer ausgegangen. Ahmed vermutet, dass dies auf eine diskriminierende Politik zurückzuführen ist, die bei der Verteilung von Hilfsgütern die Einheimischen bevorzugt.
"Am Tag nach dem Erdbeben begannen alle, die noch ein Haus hatten, die doppelte Miete zu verlangen", sagt Ahmed. Er hatte sein letztes Gehalt noch nicht erhalten und musste sich daher Geld leihen, um nach Syrien zu gelangen. In der Türkei sah er keine Chance mehr: "Eine Wohnung, die einst 4.000 Lira (etwa 199 Euro) im Monat gekostet hat, kostet jetzt 8.000 Lira im Monat", beklagt er. "Und es gibt auch Diskriminierung. Für einen Syrer ist es jetzt fast unmöglich, eine Wohnung zu mieten."
Das war der Zeitpunkt, als er und seine Familie beschlossen, in das kriegsgebeutelte Land zurückzukehren, aus dem sie zuvor geflohen waren: "Im Moment weiß ich nicht, was passieren wird", fügt Ahmed hinzu. "Wenn wir hier ein Zelt oder eine Unterkunft bekommen könnten, würden wir wahrscheinlich einfach bleiben. Vielleicht würde ich mich hier niederlassen. Aber im Moment weiß ich es einfach nicht."
Tausende kehren nach Syrien zurück
Mit der gleichen Ungewissheit sehen sich auch Tausende andere Syrer konfrontiert. Bis vor wenigen Tagen hatten unterschiedlichen Angaben zufolge fast 10.000 Syrer den türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa passiert. Beobachter vermuten, dass aber bereits bis zu 20.000 Syrer zurückgekehrt sein könnten, wenn man auch andere Grenzübergänge und Reisemöglichkeiten berücksichtigt.
In den am stärksten betroffenen türkischen Städten lebten zahlreiche Syrer, sagt Fadel Abdul Ghany, Leiter des in Großbritannien ansässigen Syrian Network for Human Rights (SNHR), das Menschenrechtsverletzungen in Syrien dokumentiert.
Sowohl Hatay als auch Gaziantep in der Türkei hätten jeweils knapp eine halbe Million syrische Einwohner, so Abdul Ghany. "Das bedeutet, dass viele der Toten in diesen Städten Syrer sein werden und dass ein Großteil der Schäden Syrer betreffen wird", erklärt Abdul Ghany. "Viele von ihnen werden alles verloren haben: Familien, Eigentum, Arbeitsplätze. Für viele von ihnen war es schon vorher ein Kampf. Es wird noch schwieriger sein, sich wieder eine Existenz aufzubauen."
Daher kehren manche nach dem Erdbeben nach Syrien zurück. Die einen wollen nach ihren Familien sehen, während andere zu ihren Verwandten reisen, um zu trauern, so Abdul Ghany.
Kein Flüchtlingsstatus in der Türkei
Die Türkei hat die internationalen Flüchtlingskonventionen ratifiziert, doch die rund vier Millionen Syrer sind nicht als Flüchtlinge anerkennt. Das Land gewährt ihnen den so genannten "vorübergehenden Schutzstatus", der mit einer Aufenthaltsgenehmigung, dem Zugang zu einigen Sozialleistungen und öffentlichen Diensten sowie einem Ausweispapier einhergeht.
Vor dem Erdbeben durften Syrer mit einer Aufenthaltsgenehmigung in die von Rebellen kontrollierten Teile Nordsyriens reisen, um dort Freunde und Familie zu besuchen. Hunderte von syrischen Familien fuhren daher regelmäßig an religiösen Feiertagen sowie anderen Anlässen nach Hause.
Doch das hat sich in letzter Zeit geändert, da die Anwesenheit von vertriebenen Syrern in der Türkei zunehmend zu einem kontroversen politischen Thema geworden ist. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angesichts der bevorstehenden Wahlen begonnen, Ausländer für die wirtschaftliche Misere seines Landes verantwortlich zu machen.
Die Idee einer Zwangsabschiebung von Syrern in eine sogenannte "sichere Zone" jenseits der Grenze wurde schon länger von türkischen Politikern diskutiert. In der Folge strich die türkische Regierung Syrern im April 2022 die Besuche in der Heimat, um mit Familie das Fest des Fastenbrechens zu feiern. Dabei hatte es Ankara es ihnen seit 2014 regelmäßig gestattet.
Damals erklärte der türkische Innenminister Süleyman Soylu gegenüber türkischen Medien, die Syrer könnten "in die sichere Zone gehen und dort bleiben". Im Oktober 2022 berichtete Human Rights Watch, dass die türkischen Behörden Anfang des Jahres Hunderte von Syrern willkürlich verhaftet und zwangsweise abgeschoben hätten.
Mehr als eine Woche nach dem Erdbeben, am 15. Februar, erklärte die türkische Regierung, dass Syrer, die eine Aufenthaltsgenehmigung haben und in den zehn erdbebengeschädigten Provinzen leben, zwar Syrien besuchen könnten. Sie müssten dort dann aber mindestens drei Monate bleiben und nach spätestens nach sechs Monaten zurückkehren. Wenn sie sich nicht an diese Fristen hielten, so hieß es, werde ihre Aufenthaltsgenehmigung widerrufen.
Herausforderungen auch in Syrien
Beobachtern zufolge kehren die meisten Rückkehrer in die nordsyrischen Gebiete zurück, die nicht unter der Kontrolle von Diktator Baschar al-Assad stehen. Der syrischen Regierung werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.
Die Gebiete im Nordwesten Syriens hingegen werden von einer Vielzahl unterschiedlicher Milizen kontrolliert - darunter befinden sich Gruppierungen, die von der Türkei und den USA unterstützt werden, aber auch extremistische religiöse Milizen wie Hayat Tahrir al-Scham, die aus der Al-Kaida-nahen Nusra-Front hervorgegangen sind.
Seit Jahren wird der Nordwesten des Landes von Assad und seinem Verbündeten Russland bombardiert. Die Infrastruktur ist stark geschwächt und die meisten der über vier Millionen Menschen, die in diesen Gebieten leben, sind schon lange auf internationale Hilfe angewiesen. Das Erdbeben hat alles verschlimmert.
"Wir haben von Menschen in der Region und von Journalisten vor Ort gehört, dass viele Rückkehrer bei ihren Verwandten oder in behelfsmäßigen Lagern untergebracht sind", sagt Ranim Ahmed, leitende Kommunikationsbeauftragte der Organisation "The Syria Campaign", der DW.
"Da die Rückkehrer größtenteils nicht in die vom Assad-Regime kontrollierten Gebiete zurückkehren, haben sie keine Angst vor Verfolgung oder Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der Regierung", sagt Muhsen al-Mustafa, Forscher am 'Omran Center for Strategic Studies' in Istanbul.
Die größte Bedrohung gehe aber nach wie vor von Machthaber Baschar al-Assad aus, der sie daran hindern würde, in die Gebiete zurückzukehren, aus denen sie ursprünglich kommen. "Wenn sie jedoch die von der Opposition gehaltenen Gebiete nicht verlassen, besteht die größte Gefahr für sie darin, vom Assads Waffen getroffen zu werden", so al-Mustafa.
Rückkehr in die Türkei?
Der SNHR-Vorsitzende Abdul Ghany versteht gut, warum seine Landsleute aus Verzweiflung und Sorge nach Syrien zurückkehren, aber er macht sich auch Sorgen um ihre Rückkehr - trotz der Versprechen der Regierung Erdogan. "Die meisten haben eine Aufenthaltsgenehmigung. Einige wenige haben sogar die Staatsbürgerschaft. Aber ich mache mir Sorgen, dass die türkischen Behörden dies als Chance sehen und sie nicht so einfach wieder zurückkehren lassen."
Die Sprecherin der "Syria Campaign", Ahmed, teilt die Besorgnis. "Angesichts der zunehmenden Feindseligkeit gegenüber syrischen Flüchtlingen, die wir in den letzten Monaten erlebt haben, gibt es reale Befürchtungen, dass die Türkei sie nicht wieder einreisen lassen könnte", sagt sie. "Aber das werden wir erst in ein paar Monaten wissen, wenn die Menschen wieder in die Türkei kommen wollen. Im Grunde ist alles sehr unsicher", warnt sie.
Deshalb fordert "The Syria Campaign", dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Vereinten Nationen sicherstellen, dass "jeder Zugang zu lebensrettender Hilfe hat, dass die Zivilbevölkerung in Nordsyrien geschützt wird und dass syrische Flüchtlinge in der Türkei vor zunehmendem Rassismus und Zwangsabschiebung geschützt werden".