Nach Flüchtlingsdrama: Vorwürfe an griechische Küstenwache
23. Juni 2023Es ist leer geworden um das Gebäude der Hafenverwaltung in Kalamata. Nach dem verheerenden Schiffsunglück vor der Küste der Stadt im Süden Griechenlands vor gut einer Woche kamen hunderte Menschen aus vielen Ländern Europas, um nach ihren Familienmitgliedern und Freunden zu suchen. Doch während die Bergungsarbeiten noch weitergehen, ist die Hoffnung, Überlebende zu finden, längst erloschen.
In einem Café neben der Hafenbehörde holt ein syrischer Mann, um die vierzig Jahre alt, Papiere aus seiner Aktentasche. Seit vielen Jahren lebe er in Deutschland, erzählt er mit leicht bayerischem Akzent. Seinen Namen will er nicht veröffentlicht wissen.
In der Hand hält er Kopien des Ausweises seines 16-jährigen Neffen: "Wir hatten vor drei Wochen das letzte Mal Kontakt. Ich habe über Facebook erfahren, dass er auf dem Schiff war", berichtet er. Jeden Tag sei er zur Hafenbehörde gegangen, um sich nach ihm und einem mitreisenden Freund zu erkundigen. Doch weder im Krankenhaus, wo noch ein Teil der 104 Überlebenden medizinisch versorgt wird, noch auf den Listen jener, die bereits in ein Lager in der Nähe von Athen verlegt wurden, tauchen die Namen der beiden auf. "Im Krankenhaus hat man mir keine Informationen gegeben. Sie haben gesagt, es ginge um Datenschutz", sagt der Syrer.
"Die Welt schaut zu"
In der Nacht zum Dienstag (20.06.2023) hatte die Küstenwache drei weitere Leichen im Wasser gefunden. Insgesamt 81 Menschen sind bisher tot geborgen worden und müssen nun identifiziert werden. Die griechischen Behörden haben damit begonnen, DNA-Proben der Angehörigen zu nehmen.
Ob sein Neffe unter den Toten ist, kann der Mann im Café neben der Hafenbehörde noch nicht sagen. Er wird seiner Schwester in Syrien auch heute keine Neuigkeiten von ihrem Sohn schicken können. An diesem Nachmittag muss er zurück nach Deutschland fliegen und in seiner Firma arbeiten. Gern, sagt er, hätte er seinen Neffen dabei unterstützt, dort ein besseres Leben zu beginnen.
Obwohl Syrien in den westlichen Nachrichten kaum noch eine Rolle spiele, sei die Situation dort weiterhin schwierig, klagt der Mann: "Die Menschen haben die Nase voll von Krieg und politischem Chaos. Die jungen Menschen wollen raus aus dem Land, etwas machen aus ihrem Leben." Auf die Frage, wer die Verantwortung für das Unglück trage, sagt er: "Wir sind alle verantwortlich." Seit so vielen Jahren gebe es keine Lösung, weder für die Syrer, noch für die vielen anderen Menschen, die auf internationalen Schutz in Europa hoffen und dabei ihr Leben riskieren: "So viele Tote und die Welt schaut zu."
Überlebende hinter Stacheldraht
Eine gute halbe Stunde nördlich von Athen befindet sich Malakasa 2, ein von der EU finanziertes und von Griechenland verwaltetes Registrierungs- und Identifikationszentrum für Asylsuchende. Hier, hinter Stacheldraht und elektronischen Drehkreuzen, vor denen der Sicherheitsdienst postiert ist, sind die meisten Überlebenden des Schiffsunglücks untergekommen. Hinter einem Absperrband drängen sich ein paar Journalisten, die darauf hoffen, mit Überlebenden sprechen zu können.
Der Registrierungsprozess gehe schnell voran, teilt man von Seiten des griechischen Migrationsministeriums mit. Bis zum Mittwochabend (21.06.2023) hätten 41 Männer die Registrierung abgeschlossen und das Camp verlassen können; mit der Presse reden wolle jedoch niemand.
"Wir haben den Menschen geraten, nicht mit Journalisten zu sprechen", sagt Manos Logothetis vom griechischen Migrationsministerium offen. Dies geschehe allein zum Schutz der Flüchtlinge, doch natürlich obliege die Entscheidung den Betroffenen selbst. Vor Ort ist der Eindruck anders. Aus den wenigen, kurzen Gesprächen, die die DW mit Flüchtlingen führen konnte, geht hervor, dass sie offenbar befürchten, ein Kontakt zu Journalisten könne sich negativ auf ihr Asylverfahren auswirken. Ein Betroffener berichtet der DW zudem, er dürfe das Camp nicht verlassen.
Video sorgt für Aufregung
Möglicherweise wurden Überlebende des Schiffsunglücks auch unter Druck gesetzt, nachdem vor ein paar Tagen ein Video in sozialen Netzwerken kursierte, auf dem zwei Männer aus Pakistan durch den Zaun in die Kamera schauen und schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache erheben. Diese hätte versucht das manövrierunfähige Boot abzuschleppen. Erst dadurch sei es gesunken. Das Video sorgte in der Öffentlichkeit für große Aufregung.
Ein syrischer Überlebender aus dem Lager, den die DW mit Hilfe eines Übersetzers telefonisch kontaktieren konnte, bestätigt die Darstellung der beiden Pakistaner: "Wir sind von einem anderen Schiff gezogen worden und dann gekentert", sagt der Mann auf Kurdisch. Was für ein Schiff das gewesen sei, könne er jedoch nicht sagen.
Die griechische Küstenwache weist die Vorwürfe zurück. Man habe helfen wollen und versucht das Boot mit einem Tau zu befestigen, das jedoch von den Menschen ins Wasser geworfen wurde - so die offizielle Version der Küstenwache. Eine Interviewanfrage der DW lehnt das für die Küstenwache zuständige Marineministerium ab und verweist auf seine Pressemitteilungen.
Vorwürfe gegen die Küstenwache
Am vergangenen Sonntag (18.06.2023) hatte die BBC eine Recherche veröffentlicht, die weitere Fragen aufwirft. Anhand von Daten einer Webseite, die die Bewegung von Schiffen verfolgt, schlussfolgerten die Autoren des Berichts, dass das Boot mit den Flüchtenden sich in den sieben Stunden vor der Katastrophe kaum bewegt habe. Die griechische Küstenwache aber hatte angegeben, dass sich das Boot auf stetigem Kurs Richtung Italien befunden hätte. Außerdem steht die Frage im Raum, warum es keine Videodokumentation des Vorfalls gibt, obwohl das Boot der Küstenwache mit Kameras ausgerüstet ist.
Immer wieder sieht sich die griechische Küstenwache Vorwürfen ausgesetzt, Boote mit Migranten absichtlich manövrierunfähig zu machen. Auf diese Weise soll den Menschen der Zugang zum europäischen Asylsystem verwehrt werden. Viele dieser Fälle sind dokumentiert, auch durch Videos. Trotzdem beharrt Athen darauf, sich an geltendes Recht zu halten - auch im Falle des Unglücks der vergangenen Woche.
Dass die griechische Staatsanwaltschaft diesbezüglich eine Untersuchung eingeleitet hat, ist Chloe Powers vom Border Violence Monitoring Network nicht genug. Seit vielen Jahren dokumentiert die Nichtregierungsorganisation Menschenrechtsverbrechen an den griechischen EU-Außengrenzen. Die bisherigen Untersuchungen dazu, die Athen im Alleingang durchführte, seien dabei immer zu Gunsten der griechischen Küstenwache ausgefallen.
Unabhängige Überwachungsmechanismen
Powers sieht auch im vorliegenden Fall wenig Interesse von Seiten der Regierung, Licht ins Dunkel zu bringen. Den Fokus der griechischen Behörden auf die neun Ägypter, die ebenfalls auf dem Boot waren und in Kalamata unter dem Verdacht des Menschenschmuggels in Untersuchungshaft sitzen, hält sie für falsch. Auf diese Weise würde Migration an sich kriminalisiert. Tatsächlich jedoch sei das Unglück im Wesentlichen Ergebnis einer auf Abschreckung setzenden Politik der EU gegenüber Asylsuchenden, so Powers: "Um mehr Transparenz zu schaffen, die Grundrechte zu schützen und gegen systemische Grenzgewalt vorzugehen, bedarf es unabhängiger Überwachungsmechanismen, auch unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure." Nur so könne man transparent untersuchen, inwieweit staatliche Institutionen innerhalb der EU an Menschenrechtsverletzungen beteiligt seien.