Günter Grass ist tot
13. April 2015Dieses Leben voller Höhen und Tiefen, voller Sternstunden und Verwerfungen beginnt am 16. Oktober 1927. Günter Grass kommt in den sprichwörtlichen "kleinen Verhältnissen" zur Welt. Seine Eltern betreiben in Danzig einen Kolonialwarenladen, die Kundschaft ist arm, lässt auch mal anschreiben, die Wohnung ist eng, die Umgebung katholisch. "Eine Kindheit zwischen Heiligem Geist und Hitler", schreibt der Grass-Biograph Michael Jürgs. Siebzehnjährig erlebt Grass das Grauen des Zweiten Weltkrieges, 1944 als Flakhelfer, dann in der Waffen-SS. Davon aber wird er erst Jahrzehnte später erzählen - und einen Skandal auslösen. Vorerst gilt es, die Kriegszeit zu überleben.
Anfänge eines Erfolgsautors
1952 - die Bundesrepublik ist jung, Grass ist es auch. Er beschäftigt sich mit der Kunst, studiert Bildhauerei und Grafik, spielt in einer Jazzband mit, reist, und geht schließlich 1956 für eine Zeit nach Paris. Kein glänzendes, eher ein bescheidenes Leben führt er dort zusammen mit seiner ersten Frau - aber es ist der Beginn einer großen Schriftstellerkarriere. Grass entwirft hier seinen Roman "Die Blechtrommel", der 1959 erscheint, für Aufruhr in der deutschen Spießigkeit jener Jahre sorgt und dann doch noch ein Welterfolg wird, vielfach übersetzt, auch verfilmt. Genau vier Jahrzehnte später wird sein Schöpfer dafür - und für sein Lebenswerk - den Literaturnobelpreis erhalten.
Kreativ, produktiv
Günter Grass hat Dramen, Gedichte und vor allem Belletristik geschrieben, die Liste seiner Werke ist lang. Bekannte Romane wie "Hundejahre", oder "örtlich betäubt" sind darunter, "Der Butt", "Die Rättin", "Unkenrufe", "Im Krebsgang" und viele andere. Immer geht es darin um politische Verhältnisse und gesellschaftliche Umbrüche: die Rolle von Intellektuellen beim Aufstand in der DDR 1953 beispielsweise, die Studentenrevolte der 1968er, Bundestagswahlkämpfe, Zukunftsfragen, Ost-West-Politik, den Untergang eines Flüchtlingsschiffes 1945 auf der Ostsee.
Die Aussöhnung mit Polen blieb dem gebürtigen Danziger immer ein Herzensanliegen. Die gleiche Begeisterung wie für die Geschichte um den trommelnden Oskar Matzerath haben die späteren Bücher zwar nie wieder erreicht, doch waren sie allesamt große Erfolge - und Gesprächsstoff für die literarisch interessierte Republik. Manchen Lesern schienen sie freilich zu sperrig: zu viel Politik, zu wenig Kunst.
Moral und Politik
Günter Grass war ein vielen Künsten verpflichtetes Multitalent: Romanautor, Lyriker, Grafiker, Bildhauer und, gelegentlich, auch Illustrator seiner eigenen Bücher. Aufsehen erregte er auch durch seine politischen Einmischungen - lange Jahre galt er in Deutschland als eine Art "moralische Instanz". Seit 1961 engagierte er sich für die SPD, ohne Parteimitglied zu sein, unterstützte 1969 Willy Brandt im Wahlkampf, trat Jahre später doch in die Partei ein, gab sein Mitgliedsbuch im Streit um die Neugestaltung des Asylrechts zurück.
Er blieb aber, was er war: ein gelegentlich etwas polternder, kritischer Zeitbeobachter, ein unabhängiger Linker, der sich kraft seines Renommees wortgewaltig einmischte, gegen die Abschiebung von Kurden protestierte, für ehemalige NS-Zwangsarbeiter, für Menschenrechte, für verfolgte Autoren, gegen Kriege, für Kriege - und der dann, 2006, einräumen musste, dass er selbst im Krieg fehlbar geworden war. Die in seiner Autobiographie erwähnte Mitgliedschaft des 17-Jährigen in der Waffen-SS führte zu einer erregten öffentlichen Debatte im In- und Ausland. Auf den Ruf der moralischen Integrität legte sich der Schatten der verschwiegenen Mittäterschaft. Grass grollte. Plötzlich galt er, der sich immer für einen schonungslosen Umgang Deutschlands mit seiner NS-Vergangenheit ausgesprochen hatte, als Heuchler.
Ein Gedicht als Provokation
Der inzwischen betagte Schriftsteller und die Öffentlichkeit hatten sich ein wenig entfremdet, eine moralische Instanz, die den Deutschen einen Spiegel vorhält, wurde offenkundig nicht mehr gebraucht - da veröffentlichte Grass im April 2012 einen Text unter dem Titel "Was gesagt werden muss" und erregte noch einmal einen Skandal, der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ging. Der als "Gedicht" bezeichnete Text war eine unverhüllte Kritik an der Politik Israels. Grass warnte vor einem israelischen Atomschlag gegen den Iran und bezeichnete das Land, seine atomaren Kapazitäten und die Besatzungspolitik als Gefahr für den Weltfrieden.
Das Pamphlet löste Empörung aus, der Autor war nun in Israel persona non grata, Antisemitismus-Vorwürfe kursierten. Dennoch blieb Günter Grass zeit seines Lebens ein Vorbild - nicht zuletzt für seine jüngeren Schriftstellerkollegen. Uwe Tellkamp bezeichnete ihn als eine der "stärksten erzählerischen Potenzen in der deutschen Literatur", Moritz Rinke nannte ihn salopp den "vielleicht interessantesten, vielseitigsten Dinosaurier".
Der Literaturnobelpreisträger starb am Montag im Alter von 87 Jahren in Lübeck. Das teilte der Steidl Verlag in Göttingen mit.