Nahost: UN besorgt über verschärfte Kämpfe in Nahost
31. Oktober 2023
Das Wichtigste in Kürze:
- UNHCR appelliert an Sicherheitsrat
- USA: "Waffenruhe nicht die richtige Antwort"
- Palästinensische Menschenrechtler fordern internationale Haftbefehle
- Putin instrumentalisiert antiisraelische Gewalt
- Angehörige deutscher Geiseln: "Die Uhr tickt"
Vor dem Hintergrund schwerer Kämpfe hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, den gespaltenen Sicherheitsrat aufgerufen, sich zu einigen und eine Waffenruhe zu unterstützen. "Ein humanitärer Waffenstillstand kann zumindest diese Todesspirale stoppen, und ich hoffe, dass Sie Ihre Differenzen überwinden und Ihre Autorität nutzen werden, um einen solchen Waffenstillstand zu fordern", sagte Grandi vor dem Weltsicherheitsrat in New York.
Der Sicherheitsrat hat bislang keine Resolution zu den seit drei Wochen andauernden Kampfhandlungen zwischen dem israelischen Militär und der terroristischen Hamas im Nahen Osten angenommen. Einige Textentwürfe werden von den USA blockiert, weil darin das Recht Israels auf Selbstverteidigung nicht erwähnt wird. Ein anderer Entwurf wird insbesondere von Russland und China zurückgewiesen, weil er nicht eindeutig zu einem Waffenstillstand aufruft.
Auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich höchst besorgt über verschärfte Kämpfe im Gazastreifen. "Die Zivilbevölkerung hat von Anfang an die Hauptlast der derzeitigen Kämpfe getragen", so Guterres in einer Erklärung.
USA "unterstützen Waffenruhe derzeit nicht"
"Wir glauben nicht, dass eine Waffenruhe im Moment die richtige Antwort ist", erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates des Weißen Hauses, John Kirby, mit Blick auf den Kampf Israels gegen die im Gazastreifen herrschende militant-islamistische Hamas. "Wir unterstützen eine Waffenruhe derzeit nicht", stellte er in Washington unmissverständlich klar. Stattdessen sollte über "Pausen" nachgedacht werden, um Hilfsgüter für die Zivilbevölkerung in den Gazastreifen zu bringen. Zugleich zeigte sich Kirby überzeugt, dass es "in den kommenden Tagen" gelingen könne, "täglich hundert Lastwagen" in das Palästinensergebiet fahren zu lassen. Nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds sind seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und der Hamas insgesamt 144 Lastwagen in dem abgeriegelten Küstengebiet eingetroffen.
Zuvor hatte bereits der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Waffenruhe abgelehnt. "So, wie die USA nach der Bombardierung von Pearl Harbor oder dem Terroranschlag vom 11. September keiner Waffenruhe zugestimmt hätten, wird Israel einem Stopp der Kämpfe mit der Hamas nach den schrecklichen Angriffen des 7. Oktobers nicht zustimmen", betonte Netanjahu. "Aufrufe an Israel, einer Waffenruhe zuzustimmen, sind Aufrufe, gegenüber der Hamas, gegenüber Terrorismus, gegenüber der Barbarei zu kapitulieren. Das wird nicht passieren."
Den Kampf gegen die Hamas verglich Netanjahu mit dem Kampf der Alliierten gegen die Nazis. Man habe den Alliierten im Zweiten Weltkrieg trotz ziviler Opfer nicht gesagt, "rottet den Nationalsozialismus nicht aus", so Israels Premier. Ein Journalist hatte ihn zuvor gefragt, ob Israel die Menschen im Gazastreifen mit den Luftangriffen kollektiv für den Terror der Hamas bestrafe.
Als Beispiel nannte Netanjahu einen Angriff britischer Piloten auf das Gestapo-Hauptquartier in Kopenhagen während des Zweiten Weltkriegs. Damals hätten die Piloten "gepatzt", das Ziel verfehlt und letztlich Dutzende Kinder getötet. "Das ist nichts, wofür man Großbritannien die Schuld geben kann. Das war eine legitime Kriegshandlung mit tragischen Folgen, die solche legitimen Handlungen begleiten." Die Alliierten hätten den Krieg trotz der tragischen Konsequenzen bis zum Ende geführt. Sie hätten gewusst, dass die Zukunft der Zivilisation auf dem Spiel stehe, sagte Netanjahu. "Nun, ich sage Ihnen jetzt, dass die Zukunft unserer Zivilisation auf dem Spiel steht."
Israels Armee hat an diesem Dienstag einem Militärsprecher zufolge ihren Kampf gegen die Hamas mit Bodentruppen fortgesetzt. Israelische Truppen befänden sich "in verschiedenen Teilen des nördlichen Gazastreifens", erklärte Jonathan Conricus. Es seien Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge und Bulldozer in den Gazastreifen bewegt worden. Bei den jüngsten Luft- und Bodenangriffen soll nach Militärangaben auch ein führender Kommandant des Terrorangriffs auf Israel am 7. Oktober getötet worden sein.
Großangriff am 7. Oktober
Hunderte Hamas-Terroristen hatten am 7. Oktober israelische Grenzanlagen überwunden und Soldaten wie auch wehrlose Zivilisten getötet. Etliche Opfer wurden gefoltert. Hunderte Personen wurden in den Gazastreifen verschleppt. Die Hamas feuerte Tausende Raketen auf Israel ab.
Nach jüngsten Angaben des israelischen Militärs wurden bei der Attacke mehr als 1400 Menschen auf eigenem Gebiet getötet und mindestens 240 Personen als Geiseln entführt. Bei darauf folgenden israelischen Angriffen wurden nach Zahlen der Hamas-Behörden mehr als 8500 Menschen im Gazastreifen getötet. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen. Die Hamas wird außer von Israel auch von den USA, der EU, Deutschland und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft.
Palästinenser: "Gaza ist die Hölle auf Erden"
Der Chef des UN-Palästinenserhilfswerks (UNRWA) dringt auf eine Ausweitung der humanitären Hilfe für den Gazastreifen. Eine Handvoll Konvois wie bislang reiche für mehr als zwei Millionen Notleidende nicht aus, sagte UNWRA-Generalkommissar Philippe Lazzarini bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. "Das bestehende System, das die Lieferung von Hilfsgütern nach Gaza ermöglicht, ist zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht den politischen Willen gibt, den Hilfsfluss sinnvoll zu gestalten und den beispiellosen humanitären Bedürfnissen gerecht zu werden." Die Menschen im Gazastreifen hätten das Gefühl, "nicht wie andere Zivilisten behandelt zu werden". Die meisten von ihnen fühlten sich in einem Krieg gefangen, mit dem sie nichts zu tun hätten, erklärte Lazzarini in New York.
Der palästinensische Vertreter bei den Vereinten Nationen wählte drastische Worte für das Leiden der Bevölkerung im Gazastreifen. Riad Mansur zitierte zunächst den ehemaligen UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld mit den Worten: "Die Vereinten Nationen wurden nicht gegründet, um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu retten." Dann fügte Mansur hinzu: "Gaza ist jetzt die Hölle auf Erden." Die Bewahrung der Menschheit vor der Hölle bedeute nichts anderes als die Rettung der Palästinenser in Gaza, meinte Mansur.
Akuter Treibstoffmangel im Gazastreifen wirkt sich nach UN-Angaben bereits auf die Wasserversorgung der Bevölkerung aus. "Nur eine Entsalzungsanlage arbeitet mit lediglich einer Kapazität von fünf Prozent, während alle sechs Wasseraufbereitungsanlagen im Gazastreifen aufgrund von Treibstoff- oder Strommangels derzeit außer Betrieb sind", berichtete die Direktorin des Kinderhilfswerks UNICEF, Catherine Russell, bei der Dringlichkeitssitzung. Sie flehe den Weltsicherheitsrat an, unverzüglich eine Resolution zu verabschieden, die die Konfliktparteien an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen erinnere, so Russell.
Israel wies abermals Forderungen zurück, Treibstoffe in den Gazastreifen zu liefern. Die Hamas verfüge über ausreichend Treibstoff und Israel werde keine Transporte erlauben, betonte die israelische Botschafterin bei den UN in Genf, Meirav Eilon Shahar.
Putin instrumentalisiert antiisraelische Gewalt
Der Kremlchef hat die judenfeindlichen Ausschreitungen in der russischen Teilrepublik Dagestan unterdessen für Vorwürfe gegen den Westen genutzt. Die Ereignisse in Dagestans Hauptstadt Machatschkala seien nicht zuletzt von ukrainischem Gebiet aus inspiriert worden - "durch die Hände westlicher Geheimdienste", sagte Putin bei einer Sitzung zur Sicherheitslage Russlands, die in Ausschnitten im Staatsfernsehen übertragen wurde. Belege für die Behauptung einer angeblich ausländischen Steuerung der Vorkommnisse im muslimisch geprägten Nordkaukasus legte er nicht vor.
Vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs war es in Machatschkala am Sonntagabend zu antisemitischen Gewaltexzessen gekommen, bei denen etwa 20 Menschen verletzt wurden. Eine aufgebrachte Menge stürmte den Flughafen der Stadt, als dort ein Flugzeug aus Israel ankam. Passagiere berichteten, sie seien mit Steinen beworfen worden. Die Polizei gab Warnschüsse ab. Die USA und Israels Präsident Isaac Herzog verglichen die Ausschreitungen mit einem "Pogrom".
Geisel-Angehörige: "Die Uhr tickt"
Angehörige deutscher Geiseln haben an die Bundesregierung appelliert, noch mehr für deren Freilassung aus der Gefangenschaft im Gazastreifen zu tun. Liri Romann, Bruder der entführten 36-jährigen Deutschen Yarden Romann, sagte dem Berliner "Tagesspiegel" nach der Nachricht vom Tod der Deutsch-Israelin Shani Louk: "Das zeigt uns allen, dass wir nur wenig Zeit haben, um all die anderen lebend zu befreien." Seine Familie sei mit mehreren deutschen Regierungsvertretern in Kontakt gewesen und mit viel Mitgefühl behandelt worden. Nach vielen "herzlichen Worten" müssten nun Taten folgen. "Es ist jetzt Zeit für die deutsche Regierung, mit allen möglichen Druckmitteln von der Hamas zu fordern, dass sie alle deutschen Staatsangehörigen sofort freilässt", betonte Romann.
Auch Shaked Haran, die ihren Vater verloren hat und deren Mutter, die deutsche Staatsangehörige Shoshan Haran, sowie weitere Verwandte verschleppt wurden, sagte der Zeitung, Shani Louks Tod müsse "allen vor Augen führen, dass die Uhr tickt". Weiter führte auch sie aus: "Die deutsche Regierung muss alle verfügbaren Kanäle nutzen, um sicherzustellen, dass die deutschen Geiseln und ihre Angehörigen freigelassen werden."
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte dem Sender Welt-TV, die Bundesregierung unternehme alles, damit keine Geiseln getötet würden. Man stehe in ständigem Kontakt mit Israel und den Behörden dort, um zu helfen, die Geiseln freizubekommen. "Und die Ansage ist ganz klar: Alle Geiseln - die mit deutschem Pass, aber auch alle anderen - müssen bedingungslos so schnell wie möglich von der Hamas freigelassen werden."
Neubauer "enttäuscht" über Thunberg
Deutschlands wohl bekannteste Klimaaktivistin Luisa Neubauer hat die Haltung von Fridays for Future International zum Nahost-Krieg kritisiert. Mit Blick auf umstrittene Postings von Gründerin Greta Thunberg sagte Neubauer dem "ZEITmagazin": "Dass Greta Thunberg bisher nichts Konkretes zu den jüdischen Opfern des Massakers vom 7. Oktober gesagt hat, enttäuscht mich." In der Vergangenheit habe sie die Schwedin "als außerordentlich reflektiert und weitsichtig" erlebt. Umso schmerzhafter seien die Erfahrungen der vergangenen Tage.
Hintergrund der Kritik sind jüngste Beiträge auf dem Instagram-Account der internationalen Fridays-for-Future-Bewegung. Darin war etwa von einem "Völkermord" gegen Palästinenser die Rede und von einem "Apartheidsystem" Israels. Überdies wurde westlichen Medien "Gehirnwäsche" vorgeworfen, um zu erreichen, dass Menschen an der Seite Israels stünden. Thunberg hatte zudem ein Foto auf ihrem Instagram-Profil geteilt, das sie mit einem Schild mit der Aufschrift "Stand with Gaza" zeigte. Mehrere Stimmen warfen Thunberg und ihrer Bewegung Antisemitismus vor. Der deutsche Ableger von Fridays for Future distanzierte sich.
wa/gri/djo/uh/qu/mm (dpa, afp, rtr, kna)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.