Die Null-Euro-Tickets von Europa
3. Juni 2022Öffentliche Verkehrsmittel statt Individualverkehr: Fachleute und Politiker sprechen sich schon seit vielen Jahren für eine Mobilitätswende aus. Stand dabei bislang vor allem der Kampf gegen den Klimawandel im Vordergrund, wird die Verkehrswende derzeit auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine diskutiert. Um die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren, sollen die Bürger Energie sparen.
Als Reaktion auf die gestiegenen Energiepreise hat der Deutsche Bundestag unter anderem ein "9-Euro-Monatsticket" beschlossen, das von Juni bis einschließlich August gekauft werden kann. Es soll Bürgerinnen und Bürger finanziell entlasten und motivieren, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, statt mit dem Auto zu fahren.
Die Zahl der im Schnitt rund acht Millionen Fahrgäste am Tag, die die Deutsche Bahn im vergangenen Jahr registriert hat, dürfte schon alleine wegen der Entwicklung der Corona-Pandemie in diesem Jahr wieder steigen. Wird das "9-Euro-Ticket" das Wachstum noch zusätzlich anheizen? Andere EU-Staaten haben bereits Erfahrungen mit entsprechenden Instrumenten gemacht:
Luxemburg
"Luxemburg ist das erste Land der Welt, das Mobilität kostenlos gemacht hat", wirbt die luxemburgische Regierung auf ihrer Webseite. Das kleine Herzogtum hat am 1. März 2020 bezahlte Tickets im öffentlichen Nahverkehr abgeschafft. Im Gegensatz zu anderen Modellen dürfen in Luxemburg auch internationale Pendler und Touristen die Verkehrsmittel kostenlos nutzen. Mit einem Anteil von gut 45 Prozent an den Arbeitskräften hat Luxemburg einen Rekordwert an Pendlern aus dem Ausland.
Die Einführung des kostenlosen öffentlichen Transports sei eine wichtige gesellschaftliche Maßnahme, analysiert der luxemburgische Verkehrsminister François Bausch. Die Regierung wolle das Land zu einem "Mobilitätslabor" machen, dessen Bevölkerungszahl innerhalb von 20 Jahren um 40 Prozent gestiegen ist.
Was die Entwicklung der Passagierzahlen seit der Einführung des kostenfreien ÖPNV betrifft, gibt es bislang keine verlässlichen Statistiken aus dem Ministerium für Mobilität. Corona-Maßnahmen wie Lockdowns, die unmittelbar nach Einführung des kostenlosen ÖPNV verhängt wurden, verzerren die Statistik der ersten Monate. Finanziert wird der kostenlose Öffentliche Nahverkehr über den Haushalt - also über Steuergelder.
Malta
Malta möchte am 1. Oktober den kostenlosen Nahverkehr für alle Bürger einführen. Damit wird Malta das zweite europäische Land, das an seine Bürger und Besucher keine Fahrkarten mehr verkauft.
Die Kostenlos-Offensive war aber keine Reaktion auf den Ukraine-Krieg, Die Regierung hat den Plan im Oktober 2021 während der Haushaltsdebatte angekündigt. Das Ziel sei unter anderem, die Abhängigkeit der Bürger vom Auto zu reduzieren, so Bertrand Borg, Redakteur der prominenten maltesischen Zeitung "Times of Malta" im DW-Interview.
Finanziert wird das Vorhaben in Malta durch Steuergelder. Genaue Zahlen gibt es aber bislang nicht. Alle Einwohner, die eine spezielle Fahrkarte beantragen, werden künftig die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen können. Falls Touristen das Ticket vor der Anreise beantragen, müssen auch sie nichts für den Öffentlichen Nahverkehr in Malta bezahlen.
Hasselt, Belgien
Es gibt nicht nur ganze Länder, sondern auch einzelne Städte und Gemeinden, die einen solchen Schritt wagen. Die belgische Stadt Hasselt schuldet ihre heutige internationale Bekanntheit bei Verkehrsexperten hauptsächlich ihrem öffentlichen Nahverkehr. Die Stadt ist über Grenzen hinaus bekannt geworden, als sie bereits im Jahr 1997 die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel einführte.
Die Bürgerinnen und Bürger durften bis 2013 kostenlos Bus und Bahn fahren. Die Stadtverwaltung machte das Konzept allerdings 2013 rückgängig, weil die Kosten langfristig zu hoch waren.
Tallinn, Estland
In der estnischen Hauptstadt Tallinn dürfen seit 2013 alle in der Stadt gemeldeten Bürgerinnen und Bürger Bus und Bahn kostenlos nutzen. Die Stadtverwaltung entschloss sich zu diesem Schritt auch, weil sich viele Menschen in der Finanzkrise keine Tickets mehr leisten konnten. Das Projekt musste allerdings durch zusätzliche Steuereinnahmen subventioniert werden.
Bislang funktioniert das Modell in der estnischen Hauptstadt ohne größere Probleme. Der kostenlose Nahverkehr sei aber ein sehr umstrittenes Thema in Estland, sagt die estnische Journalistin Evelyn Kaldoja: "Menschen beschweren sich darüber, dass es zu wenig Verbindungen gibt." Damit sei das System für Arbeitnehmer nicht sehr nützlich, so Kaldoja.
Im Gespräch mit der DW betont Kaldoja, dass das Projekt die Zahl der Autos auf der Straße nicht reduziert habe. "Trotz des kostenlosen Nahverkehrs fahren Leute, die früher Auto gefahren sind, auch weiterhin Auto", so Kaldoja. Sollte der Autoverkehr überhaupt zurückgegangen sein, so sei dies vielmehr auf die hohen Spritpreise zurückzuführen.
Nicht nur in der Hauptstadt, sondern in den meisten Landkreisen Estlands sind Bus und Bahn mittlerweile kostenlos.
Dünkirchen, Frankreich
In einer anderen europäischen Stadt haben vergleichbare Maßnahmen tatsächlich zu einer Reduzierung des Autoverkehrs geführt: Ähnlich wie in Tallinn können Bürgerinnen und Bürger in der französischen Stadt Dünkirchen öffentliche Verkehrsmittel gratis nutzen. Die Stadt an der Kanalküste hat 2018 den kostenlosen Nahverkehr eingeführt. Das offizielle Ziel lautete, "die Leute wieder in die Busse zu bringen".
Die Stadt scheint ihr Ziel erreicht zu haben. Laut einer Studie, die wenige Monate nach Einführung des kostenlosen Nahverkehrs erstellt wurde, hat das Projekt zu einer Reduzierung der Autofahrten geführt: Obwohl zwei Drittel der Befragten früher auf ihre Autos angewiesen schienen, sagte die Hälfte der Befragten, sie würde nun viel öfter den Bus nutzen als zuvor. Etwa fünf Prozent der Befragten äußerten sogar, sie hätten aufgrund der kostenlosen Busse entweder ihr Auto verkauft oder sich gegen den Kauf eines zweiten Autos entschieden.
Dänische Inseln
Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen führte auch ein nördliches Nachbarland Deutschlands den kostenlosen Nahverkehr ein: Auf einigen dänischen Inseln durfte man zeitweise kostenlos im Nahverkehr fahren.
Lina Holm-Jacobsen, Presse- und Marketingkoordinatorin von Visit Denmark, teilte der DW mit, dass dies ein Teil des Unterstützungsprogramm der dänischen Regierung war, um den Tourismus nach den Corona-Lockdowns anzukurbeln. Im Sommer 2020 und 2021 war die Überfahrt auf die dänischen Inseln kostenlos für Passagiere ohne Auto. Des Weiteren waren die Ticketpreise in der dänischen Sommersaison deutlich reduziert.
Die kostenlose Fähre gibt es dieses Jahr nicht mehr. Aber Besucher können von den reduzierten Preisen für Nahverkehr weiterhin profitieren.