NATO hebt Waffen-Beschränkungen für die Ukraine auf
31. Mai 2024Die Reaktion aus Kiew auf die Entscheidungen in Washington, Berlin und Prag kam prompt vom Sprecher des Präsidenten, Serhii Nykyforov. "Das wird unsere Fähigkeit, die massiven russischen Angriffe abzuwehren, erheblich steigern", sagte Nykyforov. Zuvor hatten US-Präsident Joe Biden in Washington, Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin und weitere NATO-Staaten beim informellen Treffen der Außenministerinnen und Außenminister der Allianz in Prag mitgeteilt, dass die Ukraine zumindest im Raum Charkiw westliche Waffen auch auf russische Stellungen und militärische Einrichtungen in Russland abfeuern kann. Um die Beschränkungen und Einsatzregeln für Waffen aus den USA, Deutschland und Frankreich hatte es eine teilweise verwirrende Diskussion gegeben.
Baerbock: Nur das Völkerrecht ist das Limit
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte dazu beim NATO-Treffen in Prag, sie halte die Diskussion um Beschränkungen für falsch. Es gehe darum, Russlands Angriff abzuwehren. "Das Völkerrecht war von Anfang an klar: Es macht deutlich, dass man Angriffe abwehren kann", sagte die deutsche Ministerin vor Reportern. Es gehe nicht darum, ob und wie westliche Waffen von der Ukraine in Russland eingesetzt würden.
Das Kriegsvölkerrecht, da sind sich die Experten einig, erlaubt dem angegriffenen Staat, Stellungen, Munitionsbunker, Logistik, Führungsstäbe und andere militärische Ziele auf dem Gebiet des Aggressors anzugreifen und zu vernichten, und zwar ohne regionale Beschränkung auf bestimmte Frontabschnitte. Baerbock deutete an, dass es Vereinbarungen mit der Ukraine gebe, über deren Inhalte aber geschwiegen werden müsse. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Ukraine handele in Selbstverteidigung nach der UN-Charta. Die NATO-Staaten hätten jedes Recht der Ukraine bei der Selbstverteidigung mit allen Mitteln zu helfen. Russische Drohungen wies Stoltenberg zurück.
USA beschränken Einsatzregeln auf Region Charkiw
US-Außenminister Anthony Blinken meinte in Prag, man müsse sich den Gegebenheiten auf dem Schlachtfeld anpassen. Russische Angriffe im Raum Charkiw müssten von der Ukraine abgewehrt werden können. Der Westen hat der Ukraine Panzerhaubitzen und Mehrfachraketenwerfer geliefert, die mit ihrer Reichweite von 40 bis 60 Kilometern von der angegriffenen Region Charkiw aus russische Stellungen und Depots bekämpfen könnten. Welche Waffen in dem Gebiet stationiert sind, ist aber unklar.
Der leitende Experte am EU-Institut für Sicherheitsstudien in Paris, Ondrej Dityrch, sagte im Gespräch mit der DW, die Entwicklung sei die richtige Antwort auf die Lage auf den Schlachtfeldern in Charkiw. "Natürlich gilt es hier, eine schwierige Balance zu halten. Ich sehe aber einen Wandel, weil so viele Staaten jetzt sagen, es gibt keine Beschränkungen außer dem Völkerrecht. Ohne weitere Bedingungen zwingen wir die Ukraine nicht mehr, mit einer Hand auf den Rücken gebunden zu kämpfen." Der Einsatz von weitreichenden Marschflugkörpern aus amerikanischer oder britischer Produktion bleibt weiter beschränkt. Die Frage, ob mit deutschen Patriot-Systemen zur Raketenabwehr in den russischen Luftraum geschossen werde dürfe, beantwortete die deutsche Ministerin Annalena Baerbock nicht konkret.
Westliche Soldaten in der Ukraine?
Die NATO-Minister berieten auch über die Möglichkeit, Ausbilder aus westlichen Armeen in der Ukraine einzusetzen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte das Anfang der Woche angekündigt und will nächste Woche einen konkreteren Plan vorlegen. Es gilt bei der NATO als offenes Geheimnis, dass britische und französische Soldaten bereits bei der Bedienung und Zielprogrammierung von Marschflugkörpern helfen. Offiziell gibt es dafür keine Bestätigung. Kampftruppen in die Ukraine zu schicken, plant aber kein NATO-Mitglied.
Ungarn widerspricht
Ministerpräsident Viktor Orban, Regierungschefs des NATO-Landes Ungarn, warnte, die Allianz riskiere mit ihrem stärkerem Engagement in der Ukraine einen Weltkrieg anstatt ihre Mitglieder zu schützen. Die Pläne des Militärbündnisses erinnerten an einen Feuerwehrmann, der versuche, einen Brand mit einem Flammenwerfer zu löschen. Das sei absurd, sagte Orban, der gute Beziehungen zum Kreml unterhält.
Der tschechische Sicherheitsexperte Ondrej Ditrych sieht die Gefahr einer Eskalation als weitaus geringer an. "Es gibt eine gewisse westliche Ambivalenz in Bezug auf einen möglichen Frontdurchbruch der russischen Truppen in der Ukraine. Ich glaube aber nicht, dass die Gefahr einer Eskalation besteht bei den Dingen, die gerade in der Überlegung sind."
Für den Fall der Fälle: Sicherungen gegen Trump
Die NATO-Außenministerinnen und Außenminister bereiten ein weiteres militärisches und finanzielles Hilfspaket vor. Der Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, drängt darauf die Hilfe "Trump-sicher" zu machen, das heißt sie so langfristig zu organisieren, dass sie weiterläuft, auch wenn der NATO-kritische Donald Trump nach den Wahlen in den USA wieder ins Weiße Haus einzöge. Auch Frankreich drängt stark darauf, den europäischen Pfeiler in der NATO zu stärken. Ganz ohne die USA, die seit 75 Jahren bestimmende politische und militärische Führungsmacht in der Allianz, werde es nicht gehen, so Sicherheitsexperte Ondrej Ditrych. "Ich denke, die europäischen Ambitionen, mehr zu machen, kann auf gewisse Weise die Amerikaner überzeugen, sich nicht völlig zurückzuziehen. Das ist realistischer als die USA in der NATO komplett ersetzen zu wollen."
Über die Zukunft der NATO, die Lastenverteilung und das Verhältnis zu Russland und China soll auf dem Jubiläumsgipfel zum 75-jährigen Bestehen in Washington Mitte Juli beraten werden.