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Nelsons: "Den Zyklus zu dirigieren ist ein Traum"

Rick Fulker / alu5. September 2014

Am Samstagmorgen wurde das Bonner Beethovenfest eröffnet. Der Lette Andris Nelsons dirigiert alle neun Symphonien. Er gilt als neuer Star am Musikhimmel. Im DW-Interview spricht er über sein Verhältnis zu Beethoven.

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Andris Nelsons
Bild: imago/CTK Photo/S. Zbynek

Deutsche Welle: Herr Nelsons, Sie sind ein vielbeschäftigter Dirigent, arbeiten auf verschiedenen Kontinenten, mit unterschiedlichen Orchestern und einem breiten Repertoire. Jetzt startet das Beethovenfest in Bonn. Wie gelingt es Ihnen, jeweils umzuschalten, von Wagner auf Strauss auf Beethoven? Brauchen Sie eine Entspannungsphase, bevor Sie so ein Projekt angehen?

Andris Nelsons: Alle Komponisten wurden von Beethoven beeinflusst, sowohl durch seine Persönlichkeit als auch durch seine Musik, das war sogar schon zu seinen Lebzeiten so. Er war für Generationen eine Vaterfigur. Man kann die Verbindung erkennen von Beethoven zu Brahms, zu Wagner, Strauss, Mahler und so weiter. Deshalb ist es nicht schwierig umzuschalten. Die Musik spricht so stark zu mir, dass es mir leicht fällt, emotional umzuschalten.

Aber die Frage ist natürlich: Bis zu welchen Grad ist Beethoven ein klassischer Komponist? Und inwieweit geht er über klassische Traditionen hinaus? Das ist eine Frage der Interpretation und wird natürlich immer heiß diskutiert, bis in die kleinsten Details, etwa die Tempi oder Beethovens Metronomangaben.

Er war ein Revolutionär. Er hat zwar Auftragswerke geschrieben, aber seine Musik geht immer über den konkreten Anlass hinaus. Das hatte natürlich mit seiner persönlichen Situation zu tun, angefangen mit seinem alkoholkranken Vater, dann sein eigenes Schicksal und seine gesundheitlichen Probleme, der Verlust seines Hörvermögens und so weiter.

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Beethoven?

Ich betrachte Beethoven immer als jemanden, der von Haydn beeinflusst wurde. Dennoch hat er eine Revolution initiiert, nicht bloß, um anders zu sein, sondern auch, weil er in einer revolutionären Epoche lebte. Aber die Musik geht über diese spezielle Zeit, diese Epoche hinaus. Die Neunte Symphonie ist universell. Selbst die Erste Symphonie ist anders, denn sie beginnt mit einer Dissonanz. Und die Tatsache, dass er im dritten Satz Scherzos anstelle von Menuetten einsetzt, zeigt, dass er immer seinen eigenen Weg ging.

Was mein Verhältnis zu Beethoven angeht: Ich bewundere Menschen, die wirklich sagen, was sie denken. Es ist als würde er sagen: 'So empfinde ich die Welt und es ist mir egal, was andere Leute darüber denken.' Seine Musik ist rein und aufrichtig. Beethoven gibt niemals vor, irgend jemand anderes zu sein. Das gilt auch für seine Momente des Triumphs. Er hat in seinem persönlichen Leben so viel gelitten und wenn man Portraits von ihm anschaut, stellt man auch fest, dass er nicht gerade eine attraktiver Mann war. Aber seine lyrischen Momente kommen direkt aus dem Herzen, sie haben nicht den Zweck, irgend jemandem zu gefallen.

Die Sechste Symphonie beispielweise ist inspiriert von der Natur, aber das ist lediglich eine Metapher. Der "Sturm" darin ist eigentlich der Sturm in seinem Leben. Selbst die "Szene am Bach" ist eine Metapher seines Inneren. Und der dritte Satz in der Neunten Symphonie ist die intimste Musik, die man sich überhaupt vorstellen kann. Man fühlt, dass Beethoven sein Herz vollkommen öffnet. Man kann seine Seele beinahe berühren. Es ist, als legte er sein Schicksal in Gottes Hand. Da treten einem die Tränen in die Augen.

Andris Nelsons
Bild: beethovenfest.de/Marco Borggreve

Diese glorreichen Momente haben mit dem Glauben an ein gutes Ende zu tun, ganz gleich, ob es um das Leben nach dem Tod geht oder persönlichen Triumph oder persönliche Probleme. Es ist doch eine vollkommen verblüffende Vorstellung: ein Komponist, der nicht hören kann! Ich denke, Beethoven spricht jeden auf eine andere Art und Weise an.

Sie arbeiten in Bonn mit dem City of Birmingham Symphony Orchester. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu den Musikern beschreiben?

Ich bin glücklich darüber und fühle mich auch sehr verwöhnt. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchester gibt es einen familiären Zusammenhalt, von dem man nur träumen kann. Die Chemie stimmt einfach und ich habe als Dirigent mit diesem Orchester das Gefühl, verstanden zu werden. Ich respektiere und liebe sie und ich fühle umgekehrt ihren Respekt mir gegenüber. Wie in einer Familie gibt es ein Gefühl von Akzeptanz, ein Gefühl für die Stärken und Schwächen von jedem. Sie warten nicht darauf, dass du scheiterst. Und ich empfinde es so, dass dieses Gefühl von Jahr zu Jahr gewachsen ist.

Es ist aufregend und eine große Ehre, die Symphonien in Bonn zu spielen, in der Geburtsstadt des Komponisten. Und es war eine interessante Reise mit dem Birmingham-Orchester durch Beethovens Symphonien. Es war für mich sehr schwer, mich von diesem Orchester zu trennen. Das kommende Jahr ist mein letztes als sein Chefdirigent. Aber wenn man sich ansieht, was sie schon mit meinen Vorgängern erreicht haben, mit Simon Rattle und Sakari Oramo, dann bin ich mir sicher, dass es gut weitergeht.

Was sind die Herausforderungen und worin liegt die Belohnung, wenn man alle neun Symphonien dirigiert?

Jeder Dirigent kann von dieser Chance nur träumen. Beethoven ist zwar einer der am häufigsten gespielten Komponisten überhaupt. Aber alle seine Symphonien in chronologischer Abfolge zu spielen, zu sehen, sie sich alles entwickelt und verändert und diesen Zyklus zu haben: das ist ein Privileg. Und das mit meinem Orchester in Bonn – das ist die Erfüllung eines Traumes.

Ich dirigiere erst zum zweiten Mal den gesamten Zyklus. Es passiert also nicht jedes Jahr. Es ist aber auch eine große Herausforderung, manchmal wagt man es kaum, dieses unglaubliche Werk auch nur anzurühren. Aber wir müssen uns natürlich damit auseinandersetzen und verstehen, dass wir so Beethovens Persönlichkeit und dem, was er der Welt zu sagen hat, am nächsten kommen.

Rick Fulker hat mit Andris Nelsons gesprochen. Mit Mitte Dreißig ist Nelsons ein gefragter Dirigent. Er ist in Riga in Lettland geboren und wurde mit 24 Chefdirigent der lettischen Staatsoper. 2006-2009 dirigierte er die Nordwestdeutsche Philharmonie in Herford und begann 2008 seine Zeit als Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra. 2010 debütierte er bei den Bayreuther Festspielen mit einer gefeierten Aufführung von Wagners "Lohengrin". Seit dieser Saison ist Nelsons Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra.