Neue Musik aus Ruinen
20. Juni 2007Im März 1946 verharrte Darmstadt nach den schweren Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs noch in einer Art Leichenstarre: Doch es regte sich bereits ein neues Musikleben. Kulturreferent Wolfgang Steinecke wollte inmitten der Ruinen einen Ort schaffen, an dem sich junge Komponisten und Musiker treffen und experimentieren konnten. Die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, eine Art Sommer-Universität, entstanden. Und sie wurden seit dem Sommer 1946 schnell zum Wegweiser der Musikgeschichte - zu einer musikalischen Institution, die die Geschichte der zeitgenössischen Kompositionen bestimmt hat wie keine andere weltweit.
Neue Klänge aus der toten Stadt
In der toten Stadt waren auf einmal Klänge zu hören wie von einem anderen Planeten: so genannte Neue Musik. Es war ein befreiender Neuanfang nach der Nazi-Zeit, in der alles verboten war, was nach Avantgarde klang - die "Stunde Null" der Neuen Musik. Im Laboratorium, in dem man neue Ideen und Stücke diskutierte, waren Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez oder Luigi Nono dabei, die bald zu internationalen Größen wurden.
"Stockhausen kam als Student in kurzen Hosen hierher", erinnert sich Solf Schäfer, der heute für das Internationale Musikinstitut Darmstadt die Ferienkurse leitet. "Während der Dozentenzeit sahen die Dozenten so aus, wie heute eigentlich kein Dozent mehr rumläuft: geschniegelt, gebügelt, mit Anzug und Krawatte. Aber es wurde ziemlich gestritten und gekämpft - und zwar auch Nächte durch bei sehr viel Bier und Wein. Dann wurde zwei, drei Stunden geschlafen, und dann begannen die Proben schon wieder."
Legendenstoff
Die Konzerte und Diskussionen von damals sind heute noch Legende. Die Wortführer und Großkomponisten hatten sich bald herauskristallisiert: Und die Ferienkurse waren zu einer quasi gesetzgebenden Institution geworden in Sachen Neue Musik - weit über Deutschland hinaus.
Zugelassen wurden vor allem Kompositionen, die auf einer strengen, oft hochkomplexen Organisation des gesamten Tonmaterials beruhten. Einfach gesagt: Viel Kopf, wenig Emotion. Zumindest wenn man analysierte, wie die Musik gemacht war. Wie sie dann klang, das konnte ganz anders sein - schließlich kann ja auch etwas, das einem strengen Konzept unterliegt, eine eigene Schönheit, einen Zauber entfalten. Aber den Verdacht des Traditionalismus hätte hier jeder weit von sich gewiesen.
Darmstädter Dogmen
Berühmtestes Opfer der Darmstädter Dogmen wurde Hans Werner Henze, heute 80 und Grandseigneur der zeitgenössischen Oper. Seine sinnliche Musik war hier als traditionell verschrien. "Er kam aufgrund seiner Ästhetik gegen die starken Persönlichkeiten Stockhausen, Boulez und Nono nicht an", sagt Schäfer. "Aber es gibt natürlich auch Komponisten, die ihren Weg ohne Darmstadt machten."
Heute gebärdet sich Darmstadt nicht mehr so dogmatisch wie früher. Darmstadt ist immer internationaler geworden. Es ist ein Forum, das Künstler verschiedener Kontinente zusammenbringt. Das Forum hat zwar seine Monopolstellung verloren - aber ist noch immer eine Werkstatt, wo sich Ensembles gründen und wo sich Komponisten und Interpreten die Köpfe heiß reden.
Bei den letzten Ferienkursen waren 250 Musiker aus 40 Nationen hier, fast ein Drittel waren Asiaten. Nicht immer kommen sie mit asiatisch klingenden Kompositionen im Gepäck - offenbar hat eine Art Globalisierung des Komponierens eingesetzt.