Erneuerbare Energien: Strom aus Strömung
24. November 2023Kohlekraftwerke schaden dem Klima, verschmutzen die Luft - und haben aus Sicht der Stromanbieter doch einen Vorteil: Sie können je nach Stromnachfrage flexibel hochgefahren oder gedrosselt werden. Bei Windrädern und Solaranlagen hingegen bestimmen Wetter und Tageszeit, wie viel Strom sie gerade erzeugen können. Wie groß das Angebot zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, lässt sich nur kurzfristig vorhersagen - eine der größten Herausforderungen bei der Energiewende.
Bei sogenannten Gezeitenströmungskraftwerken - englisch: Tidal Stream - ist das anders: Hier lässt sich über Jahre vorausberechnen, wann sie wie viel Strom liefern, denn dieser Wert ist direkt an Ebbe und Flut gekoppelt. Bei der jungen Technologie gibt es viel zu beachten und sie ist derzeit noch deutlich teurer als Strom aus Windkraft - und dennoch könnte sie in einigen Regionen auf der ganzen Welt einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten.
Das Grundprinzip unterscheidet sich von älteren Gezeitenkraftwerken, wie sie in Frankreich oder Kanada betrieben werden: Hier füllt die Flut ein Becken hinter einer Staumauer, dessen Wasser dann kontrolliert wieder abgelassen und an Turbinen vorbeigeleitet werden kann. Dieses Prinzip ist mit schwerwiegenden Eingriffen in die Ökosysteme verbunden. Gezeitenströmungskraftwerke hingegen werden nur punktuell verankert und haben einen wesentlich geringeren Einfluss auf die Umwelt.
Das Vereinigte Königreich hat als eines der ersten Länder die neuartigen Turbinen ans Netz gebracht - aktuell entfällt mehr als die Hälfte der weltweit installierten Kapazität auf Großbritannien; der Großteil davon wiederum auf Schottland. Nick Jenkins, Professor für erneuerbare Energien an der Universität Cardiff in Wales, kennt die Herausforderungen von Tidal Stream: "Die Leistung geht innerhalb eines Tages viermal deutlich hoch und runter. Und es gibt nur wenige Orte die tauglich sind, zum Beispiel an der Mündung von Meeresarmen, weil man hohe Fließgeschwindigkeiten braucht." Seine Haltung zu Gezeitenströmungskraftwerken ist trotzdem eindeutig: "Ich blicke sehr positiv auf die Technologie."
Innovation vor den Orkney-Inseln
Einer der Pioniere auf dem Gebiet heißt Orbital Marine Power. Das schottische Unternehmen nahm 2021 sein erstes Gezeitenströmungskraftwerk auf den Orkney-Inseln in Betrieb. Weitere Projekte sind in Arbeit. "Das Vereinigte Königreich als Insel-Archipel ist global gesehen eine sehr gute Region mit schnellen Strömungen, insbesondere im Norden Schottlands", erklärt Gründer und CEO Andrew Scott. "Hier strömt zwei Mal am Tag sehr viel Wasser aus dem Nordatlantik in die Nordsee und zurück." Am Standort vor der Orkney-Insel Eday legt das Wasser regelmäßig mehr als drei Meter pro Sekunde zurück - ideale Bedingungen für die neue Technologie.
Die Entwicklung von Orbital Marine Power heißt O2 und sieht aus wie ein Flugzeug, dessen 74 Meter langer Rumpf auf der Wasseroberfläche treibt. An den Tragflächen sind große Propeller angebracht, die im laufenden Betrieb unter Wasser abgesenkt sind. In der Strömung drehen sich die Rotoren mit 20 Meter Durchmesser wie bei einem Windrad. "Die Bauteile in unserer Maschine sind auch sehr ähnlich zu jenen in Windrädern, weil sie die gleiche Funktion erfüllen", sagt Scott im Gespräch mit der DW. "Die technische Herausforderung sind nur die Details, die die Gezeitenströmung vom Wind unterscheiden." Mit einem Megawatt Leistung je Turbine bewirbt Orbital Marine Power seine Entwicklung als stärkstes Gezeitenströmungskraftwerk der Welt.
Neue Kraftwerke in Planung
Am Hauptsitz des Unternehmens in Edinburgh werden die Details der Technologie weiter optimiert und weitere Projekte geplant: Neben der O2 soll ein zweites Kraftwerk installiert werden, weitere Standorte vor Wales und im Ärmelkanal sind in Planung. Weitere zwei Turbinen vor den Orkneys werden sogar von der britischen Regierung gefördert: In diesem Jahr wurde die neuartige Technologie bei den regelmäßigen Ausschreibungen für die Entwicklung von erneuerbaren Energien mit berücksichtigt. Dabei garantiert die Regierung den Unternehmen fast 200 Pfund (227 Euro) je produzierter Megawattstunde Strom.
Das ist mehr als vier Mal so teuer wie der von der britischen Regierung anvisierte Preis für Energie aus neuen Offshore-Windparks von 50 Pfund. Allerdings fand sich in der im September zu Ende gegangenen Bieterrunde kein einziges Unternehmen, das zu derart niedrigen Abnahmepreisen neue Windparks vor der britischen Küste aufbauen wollte. So manche Analysten und Oppositionspolitiker sehen die britischen Ausbauziele bereits gefährdet. Daran können auch die neu besiegelten Gezeitenströmungs-Projekte mit insgesamt 50 Megawatt Leistung kaum etwas ändern.
Hürden überwinden, Fahrt aufnehmen
Doch noch hat die Gezeitenströmungs-Technologie nicht alle Startschwierigkeiten überwunden: Im August musste das schottische Start-up Sustainable Marine Energy Ltd Insolvenz anmelden, nachdem die kanadischen Behörden ein Projekt vor der Provinz Nova Scotia aus Sorge um die lokalen Fischbestände nicht genehmigten.
Der CEO des Konkurrenten Orbital Marine Power findet das ironisch: "Wir versuchen, mit erneuerbaren Energien Lösungen für das zugrundeliegende Problem des Klimawandels zu liefern. Aber weil wir keine Garantien über die individuellen Auswirkungen an einem Standort geben können, geht es nicht voran", sagt Andrew Scott.
Für sein Unternehmen geht es nun darum, die Turbinen in Reihenproduktion zu bringen und dadurch den Stückpreis günstiger zu machen. Dabei helfe seinem Unternehmen massiv, dass seit Pandemie und Ukraine-Krieg wieder verstärkt auf lokale Wertschöpfung geachtet werde: "Für uns ist bei unserer momentanen Größe nicht rentabel, unsere Maschinen in China herzustellen: Der Aufwand für die Qualitätskontrolle würde sich nicht lohnen, und man hätte massive Logistikkosten."
Andrew Scott räumt ein, dass die globale Gezeitenströmungs-Branche niemals so groß wird wie die der Windenergie. "Aber für uns als einzelnes Unternehmen ist das eine sehr substantielle Chance, mit dem Potenzial, Tausende nachhaltige Jobs in Herstellung, Wartung und Betrieb zu schaffen." Und auch für die Energiewende insgesamt könnte die Technologie sich als gute Zutat im Gesamtmix erweisen.