Neuer Großmufti in Bosnien
19. Oktober 2012Die Muslime in Bosnien und Herzegowina sind auch heute noch stolz auf die Haltung von Hussein Kavazovic während der Jugoslawien-Kriege. Im Juli 1995, als erbitterte Kämpfe zwischen der Armee der bosnischen Serben und der muslimisch dominierten Armee der Bosniaken tobten, war der damals 31-jährige Hauptimam in Tuzla. Nur wenige Tage nach den ersten Nachrichten über das Massaker an mehr als 8000 muslimischen Männern und Jugendlichen im nahe von Tuzla gelegenen Srebrenica sagte Kavazovic in einer Radio-Ansprache: "Liebe Brüder und Schwestern, diese Menschen wurden von Tschetniks (Anm. d. Red.: radikale Serben) ermordet. Wer kämpfen will, kann an die Front gehen. Aber man darf sich keinesfalls an den serbischen Zivilisten rächen, die hier oder anderswo leben. Die Menschen in Srebrenica wurden von Tschetniks ermordet – und nicht alle Serben sind Tschetniks."
Befürworter der Verständigung
Kavazovic galt schon damals als Befürworter der Verständigung zwischen den verschiedenen Volks- und Religionsgruppen in Bosnien und Herzegowina - zu einer Zeit, als man sich mit einer toleranten Haltung nicht besonders beliebt machte.
Weniger stolz sind die Menschen in Tuzla auf die Haltung von Kavazovic im Spätsommer 2007. Damals hatte Jasmin Imamovic, Bürgermeister der nordbosnischen Stadt, seine Bürger zu einer "Revolution der Liebe" aufgerufen: Mindestens 5000 Paare sollten sich im Stadtzentrum gleichzeitig küssen, um es damit in das Guinness-Buch der Rekorde zu schaffen. Es war ein PR-Gag des Bürgermeisters für seine sozialdemokratische Partei, den auch das Tourismusamt der Stadt und ein lokaler Radio-Sender unterstützten. Hussein Kavazovics Islamische Gemeinschaft verurteilte das Vorhaben aber im Stil einer Sittenpolizei - mit dem Vorwurf, dass es sich hier um "einen Akt der Missachtung der Muslime handelt". Da die bosnischen Muslime aber als liberal und weltoffen gelten, verhallte die strenge Mahnung des damaligen Hauptimams von Tuzla: Am 1. September 2007 um 22:29 Uhr küssten sich am Hauptplatz der Stadt 6980 Paare und verdienten sich damit den Eintrag in das Guinness-Buch.
Weltoffener und toleranter Islam
Interreligiöse Toleranz und Dialogbereitschaft auf der einen und Wertkonservatismus sowie Einflussnahme in einer säkularisierten Gesellschaft auf der anderen Seite: Zwischen diesen zwei Polen bewegt sich die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina schon seit über hundert Jahren. Auch nach dem Wechsel an der Spitze erwartet Hussein Alibasic, Professor an der Fakultät für Islamwissenschaften in Sarajevo und Direktor des dortigen Instituts für interreligiöse Studien, keine größeren Veränderungen, denn "die Natur der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina erlaubt das nicht". Daher, so Alibasic, sei zu erwarten, dass Kavazovic "die bisherige Politik des interreligiösen Engagements und der Versöhnung, so wie es Großmufti Mustafa Ceric praktiziert hat, fortsetzen will".
In Bosnien und Herzegowina wird der Islam seit Jahrhunderten praktiziert - seit den Zeiten des Osmanischen Reiches. Es handele sich um eine gemäßigte Form, die von der Erfahrung des Lebens in einer multireligiösen Gesellschaft geprägt sei, erklärt der Theologe Thomas Bremer vom Ökumenischen Institut der Universität in Münster: "Die bosnischen Muslime haben viele Jahrhunderte im Osmanischen Reich zusammen mit Katholiken, mit Orthodoxen und auch mit Juden gelebt, und haben auch in der jugoslawischen Zeit nach 1918 einen speziellen Ansatz entwickelt, der offen ist für den Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften."
Große Erwartungen
Eine weitere Besonderheit des Islam in Bosnien ist auch seine einheitliche Organisation. Die Islamische Gemeinschaft in Bosnien ist in ihrer Struktur vergleichbar mit der Struktur der christlichen Kirchen. Ihr steht der Großmufti (Reisu-l-ulema) als ein gewählter und von allen anerkannter oberster Mufti vor. Das Amt hat der österreichische Kaiser Franz Joseph I. nach der Annexion Bosniens und Herzegowinas im Jahr 1878 eingeführt, um einen starken und zuverlässigen Ansprechpartner in der damals größten Bevölkerungsgruppe Bosniens zu haben. Heute machen die Muslime etwa 40 Prozent der Bevölkerung des Landes aus.
19 Jahre lang stand Großmufti Mustafa Ceric an der Spitze der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien und in dieser Zeit ist er auch außerhalb des Landes bekannt geworden. Wie kein anderer muslimischer Gelehrter oder islamischer Würdenträger wurde Ceric in Europa, insbesondere in Deutschland, geehrt und gelobt für sein Bemühen um die Integration der Muslime in die europäische Gesellschaft und den friedlichen Dialog zwischen Muslimen, Juden und Christen. Besonders nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begann in Europa die Diskussion um einen sogenannten "europäischen Islam": eine weltoffene, tolerante und moderne Religion, die Gewalt ablehnt und demokratische Spielregeln achtet. In Bosnien und Herzegowina fand man in Mustafa Ceric einen Vertreter einer solchen modernen Strömung, einen "europäischen Muslim". Er sagte Sätze wie: "Mein Sultan sitzt nicht im Osten, mein Sultan sitzt in Brüssel." Das hört man in Europa gerne.
Während der neue Großmufti Hussein Kavazovic im Inland für seine Bemühungen um den interreligiösen Dialog hoch gelobt wird, gilt er im Ausland noch als unbeschriebenes Blatt. Ob sich der 14. Großmufti wie sein Vorgänger europaweit engagieren will, wird sich noch zeigen. Die Chancen stehen gut: In seiner Rede nach der Wahl zum Großmufti betonte er, dass die Islamische Gemeinschaft Bosniens "ihren Teil der Verantwortung für den Islam in Europa übernehmen wird".