Sorgenkind Balkan
27. Dezember 2015Den Balkan "einfrieren" und sich mit ihm erst beschäftigen, wenn die EU soweit ist - so dachte man bis vor nicht so langer Zeit in Brüssel und in den großen europäischen Hauptstädten, glaubt der Politikwissenschaftler Ivan Krastev. Es ist aber ganz anders gekommen. Die griechische Finanzkrise, die aggressive Politik Russlands, die Spannungen um die russischen Energielieferungen über den Balkan, die Flüchtlingswelle aus dem Mittleren Osten über die sogenannte "Balkanroute", die Hunderttausenden Asylbewerber aus dem Westbalkan und die Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien - all dies hat diese Randregion wieder ins Zentrum der europäischen Politik gerückt.
Jeder zehnte Europäer (wenn man die Türkei nicht mitzählt) lebt auf der Balkanhalbinsel. Die Region ist zwar heterogen, hat aber im europäischen Vergleich viele gemeinsame Merkmale: Armut, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückständigkeit, fehlende Rechtsstaatlichkeit, politische Instabilität. Das Krisenjahr 2015 hat diese ohnehin schweren Probleme zusätzlich zugespitzt. Deswegen braucht die EU dringend neue Lösungen, neue Strategien und Instrumente für den Balkan, meint Johanna Deimel von der Südosteuropa-Gesellschaft, die die Region "einen Kernbestandteil Europas" nennt.
Armutsmigration
Die Beobachter sind sich einig, dass das "Sorgenkind Balkan" mehr Aufmerksamkeit braucht. Und zwar im Interesse von ganz Europa. Vor allem die Migrantenströme, die aus der Region oder über sie nach Westeuropa kommen, machen eine neue Politik zwingend notwendig. "Man muss mit diesen Ländern reden. Nicht mehr nur über sie, sondern mit ihnen", sagt Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er erinnert daran, dass ein wesentlicher Teil der Flüchtlinge, die im ersten Halbjahr nach Deutschland gekommen sind, aus den Ländern des Westbalkans stammen. Deutschland ist auch das EU-Land, das die meisten so genannten "Armutsmigranten" aus Rumänien und Bulgarien empfängt - über 200.000 in den letzten zwei Jahren. Es sind oft Roma, aber auch einfach arme Menschen, die vor der Perspektivlosigkeit in ihren Ländern flüchten.
"Insgesamt gilt für die ganze Region, unabhängig ob EU-Mitglied oder im Warteraum, dass ein vergleichsweise niedriger Lebensstandard charakteristisch ist und vor allem junge Menschen keinen Job haben. Das Einkommens- und Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd in der EU nimmt zu. Proteste in Bosnien 2014, in Mazedonien im Frühjahr 2015 und aktuell in Montenegro fordern eine neue politische Kultur, eine wirtschaftliche, demokratische und rechtsstaatliche Perspektive", fasst Johanna Deimel zusammen. Und um diese Perspektive müssten sich gleichermaßen die Länder aus der Region und die EU anstrengen, denn ansonsten bleibt der Migrationsdruck bestehen.
Die Balkanrouten der Flüchtlinge
In der zweiten Jahreshälfte haben die Balkanländer für weitere Schlagzeilen in Sachen Migration gesorgt. Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten suchten den Weg in den Westen über Griechenland, Mazedoniern, Serbien, teilweise auch über Bulgarien, Kroatien und Slowenien. Besonders für Mazedonien und Serbien war es keine leichte Aufgabe, den reibungslosen und geordneten Transit zu ermöglichen; es gab aber keine größeren Zwischenfälle oder Gewaltausbrüche. Die Flüchtlinge waren dabei keine willkommenen Gäste auf dem Balkan, man hat sie einfach in Richtung Österreich und Deutschland durchgewunken. Dusan Reljic stellt fest, dass sich die Nicht-EU-Mitglieder Serbien und Mazedonien gegenüber der Flüchtlinge humaner und zivilisierter verhalten haben als einige EU-Länder: "Seltsamerweise haben die EU-Mitglieder aus der Region eher dazu beigetragen, dass man wieder schlecht über den Balkan denkt, während die Nicht-EU-Mitglieder einen positiven Beitrag geleistet haben.“
Die Regierungen auf der Balkanroute haben das Problem teilweise zu spät erkannt und waren für den Zustrom unvorbereitet. Schlepperbanden haben an der Not der Migranten gut verdient, bis eine halbwegs organisierte Behandlung der Flüchtlinge zustande gekommen war. Auch die EU-Quotenregelung sorgte in der Region für Unmut. Die Regierungen in Sofia, Bukarest und Zagreb tragen sie zwar mit, aber die Einstellung der jeweiligen Bevölkerungen gegenüber den Flüchtlingen ist alles andere als positiv. Besonders sichtbar waren die antiliberalen und fremdenfeindlichen Stimmungen in Bulgarien - einem Land, das deswegen von den meisten Flüchtlingen gemieden wurde. Es kam zu einer neuen, flüchtlingsbedingten Teilung in Europa, und dabei fanden sich die Balkanländer eher in einer Gruppe mit Ungarn, Polen und dem Baltikum wieder, als mit den Ländern West- und Nordeuropa.
Grenzen und Sicherheit
Die gewaltigen Migrantenbewegungen aus und über dem Balkan haben mit Nachdruck das Problem der EU-Außengrenzen ins Fokus gerückt. "Die EU versucht dieses Thema seit 10-15 Jahren zu umgehen. Heute muss das Problem gelöst werden, falls die EU die Flüchtlingswelle in den Griff bekommen will", sagt Ivan Krastev.
Nicht nur die EU, auch die NATO muss auf dem Balkan ihre Grenzen schützen. 2015 haben die NATO-Mitglieder Rumänien und Bulgarien mehrfach darauf hingewiesen, dass der Ukraine-Konflikt sie in eine potenziell sehr gefährliche Lage bringe. Beide Länder tragen die Sanktionen gegen Russland mit, Bukarest und Moskau haben zusätzlich auch Spannungen wegen der Republik Moldau. Die geopolitischen sowie die energiepolitischen Bestrebungen des Kremls in der Region seien sehr ernst zu nehmen, meint Johanna Deimel. "Da haben wir einerseits ein Land wie Serbien, das in strategischer Partnerschaft mit Russland steht, und auf der anderen Seite Montenegro, das soeben die Einladung für die NATO-Mitgliedschaft erhalten hat. Und schließlich haben die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen einen sicherheitspolitischen Aspekt insofern, als religiöse Radikalisierungen in den muslimischen Gesellschaften der Region eine potentielle Gefahr für die betreffenden Länder und für ganz Europa darstellen. Bei all diesen Fragen spielt der Balkan eine wichtige Rolle für Gesamteuropa - jetzt umso mehr."