Ein Traum von einem Schloss
18. August 2014Die Türme sind wirklich schneeweiß. Wie auf all den Fotos, die wohl jeder Besucher schon im Internet gesehen hat. Aber nun, vis-a-vis zu Zinnen und Giebeln, scheinen alle Anwesenden doch ein ganz klein wenig überwältigt. Irgendwie Kitsch, irgendwie schön. Hunderte Menschen aus aller Welt haben sich an diesem sommerlichen Sonntag vor Schloss Neuschwanstein im Süden Bayerns eingefunden und bewundern nicht nur dessen aus der Welt gefallene Architektur, sondern auch den majestätischen Blick über das 150 Meter unter ihnen gelegene Lechtal. Grün, so weit das Auge blicken kann: Felder, Wiesen, kleine Wälder. Dazwischen weiße Kirchen mit roten Dächern, eingerahmt von türkisblauen Seen. Auch das: irgendwie Kitsch, irgendwie schön.
Bayerisches Märchen, streng organisiert
Eine scheppernde Lautsprecherstimme unterbricht die Idylle: "Die kleine Anne wartet im Schloss-Shop am Eingang auf ihre Eltern." Das kann in dem Gewühl schon einmal passieren. Es ist aber die Ausnahme, denn auf der Touristenhochburg Neuschwanstein verschmelzen zwei Welten, die sonst als unvereinbar gelten: bayerische Bilderbuchlandschaft, verwaltet mit preußischer Präzision.
Schon die Anfahrt ist spektakulär. Von weitem kann man das Schloss erspähen, das der bayerische König Ludwig II. ab 1869 auf einem Felszacken vor den dramatisch abfallenden Wänden des Ammergebirges bauen ließ. Von der kleinen Ortschaft Hohenschwangau am Fuße des Schlosses, rolle ich - wie von Zauberhand gelenkt - auf einen freien Parkplatz. Hier stehen bereits Reisebusse und entlassen die Massen. "Manchmal gibt es Autofahrer, die sich doof anstellen", meint der zuständige Parkplatzwächter "aber eigentlich haben wir das hier gut im Griff." Welche Gäste sind am beliebtesten? "Die Chinesen. Immer diszipliniert und schnell wieder weg", sagt er. Am wenigsten mag er italienische Schulklassen.
Weiter geht's zu Fuß quer durch den Ort, vorbei an Souvenirständen mit Schnickschnack. "Königliche Regenschirme" mit dem Konterfei Ludwigs II. sind trotz sommerlicher Temperaturen der Renner. Auch das Schloss zum Selberbasteln findet zahlreiche Interessenten. Das kann man auch auf dem Rückweg kaufen. Dann muss man es nicht den Schlossberg hoch und wieder runter schleppen. Am Ortsausgang dann die Kasse. Auch hier geht es zügig voran. Nach fünf Minuten in der Warteschlange das Verkaufsgespräch: "Deutsch?" Ja. "Gruppe 452, Einlass in zwei Stunden. Sie haben viel Zeit, der Weg zum Schloss dauert höchstens eine Stunde. Macht 12 Euro." Das ging ja schnell.
Mutation zum Sehnsuchtsort
Es ist offensichtlich: man hat viel Erfahrung mit Besuchermassen auf Neuschwanstein. Schon kurz nach König Ludwigs mysteriösem Tod 1886 wurde das Schloss zur Besichtigung freigegeben und schnell zum Kult-Ziel, wenn auch damals eher von lokalen Fans der bayerischen Monarchie. Die Massen kamen erst in den 1930er Jahren in diese abgelegene Ecke Bayerns. Damals "entdeckten" die Nationalsozialisten das gerade einmal 60 Jahre alte romantische Phantasieschloss als uraltes germanisches Kulturerbe. Die NS-Massenorganisation Kraft durch Freude perfektionierte die Urlaubsreisen der Deutschen mit militärischer Präzision und verwandelte das kleine Dorf Hohenschwangau in ein funktionales Touristenzentrum - mit gepflasterten Zufahrtswegen, "echten" bayerischen Gasthäusern, auf uralt getrimmten Brunnen und "authentisch alpenländischen" Neubauten.
Alle Mann nach oben! - Egal wie...
Alle offensichtlichen Erinnerungen an die Nazi-Zeit wurden nach 1945 eilig beseitigt. Seitdem herrscht hier friedliche Völkerverständigung. Führungen gibt es auf Deutsch und Englisch. Für alle anderen Besucher werden Audio-Guide-Führungen in 16 Sprachen, darunter Koreanisch, Thailändisch und Arabisch angeboten.
Dementsprechend turbulent geht es beim Aufstieg zum Schloss zu: Einige Besucher sind mit voller Bergausrüstung angetreten - wie für eine Himalaya-Expedition. Andere haben wohl einfach das angezogen, was im Koffer gerade oben auf lag. Manche vermuten hinter jedem Baum ein ungelöstes Geheimnis des Mittelalters und fotografieren begeistert alle zwei Schritte seltsame Schilder, gefällte Bäume und sich selbst - vor seltsamen Schildern und gefällten Bäumen. Anderen stehen schon nach 50 Höhenmetern der Schweiß auf der Stirn und die Versagensangst ins Gesicht geschrieben. Man macht sich gegenseitig Mut: "Keine Angst, höchstens noch eine halbe Stunde bis zum Schloss." - "Wirklich? Das schaffen wir!" - "Ja!" - "Das schaffen wir locker!"
Ein kurzes Vergnügen
Endlich Einlass. Gruppe 452 ist pünktlich vollständig angetreten und lauscht der professionellen Schlossführerin. Die Tour dauert 45 Minuten, aber nur, weil es zu Wartezeiten kommt, wenn die Vorgängergruppe im nächsten Raum disziplinlos die erlaubte Zeit überzieht. Was gibt es zu sehen? Das Schlafgemach mit Himmelbett - okay. Die Wohnräume - eng, piefig. Der Thronsaal - enttäuschend. Das soll alles gewesen sein? Erste Zweifel. Dafür hat König Ludwig seine Existenz aufs Spiel gesetzt?
Drei Millionen Mark sollte der Bau ursprünglich kosten, eine Unsumme damals, selbst für einen König. Als Ludwig II. schließlich 1886 entmachtet wurde, waren bereits sechs Millionen Mark in den Bau versenkt worden - abgepresst von der damals bettelarmen Landbevölkerung Bayerns. "Wäre das Schloss fertig gestellt worden, hätte es mehr als 180 Zimmer gehabt", entschuldigt sich die Schlossführerin für die kurze Führung.
Disney-Schloss eines Visionärs
Wieder draußen. Die kleine Anne hat ihre Eltern wieder gefunden. Überhaupt: ringsum zufriedene Gesichter. Den Weg zurück zum Parkplatz kennt ja jeder mittlerweile, und unten angekommen wartet das Schloss zum Selberbasteln. Nicht ein Schloss, sondern das Schloss zum Selberbasteln. Das Schloss, das man weltweit kennt, und sei es nur als Logo des Disney-Konzerns. Das Schloss, das seit Generationen definiert, wie ein echtes Schloss oder eine echte Burg auszusehen hat und wie nicht. Und dieses unvollendete Schloss Neuschwanstein ist heute eine Goldgrube für den Freistaat Bayern, 150 Jahre nachdem es nie fertig gebaut wurde. König Ludwig war ein skrupelloser Verschwender, aber eben auch ein Visionär.