Die gespaltene Stadt
5. November 2013Sie sind das andere New York. Weniger sichtbar als die glänzenden Hochhaustürme Manhattans oder die junge Kreativszene in Brooklyn. Sie darben dort vor sich hin, wo die Stadt schon ausfranst. Und sie sind wütend: Auf einer großen Tafel im Büro der Hilfsorganisation "Coalition for the Homeless" haben sie, die Obdachlosen, ihre Botschaften an Noch-Bürgermeister Michael Bloomberg hinterlassen: "Was ist daran angenehm, regelmäßig schimmeliges Essen zu essen?" Oder auch: "Bloomberg, wie kannst du dich einen tatkräftigen Bürgermeister nennen - die Obdachlosen sind dir doch egal." Der so gescholtene Politiker hatte die Obdachlosenunterkünfte als "angenehmer als jemals zuvor" bezeichnet.
"Bloombergs Obdachlosenpolitik ist weitgehend ein Desaster", kritisiert Patrick Markee von der "Coalition". "Die Obdachlosigkeit ist in seinen zwölf Jahren Amtszeit um 65 Prozent gestiegen - es gab hier noch nie so viele Menschen ohne ein Zuhause wie jetzt." Mehr als 51.000 Menschen suchen Statistiken der Stadt zufolge jede Nacht Obdach in den Unterkünften, darunter mehr als 21.000 Kinder. "Tatsächlich machen Familien und Kinder einen Großteil der Obdachlosen in New York aus", sagt Markee. "Und sie bleiben länger und länger in den Heimen - im Schnitt 13,5 Monate."
Lebenswerter als vor zehn Jahren
New Yorks Probleme haben viele andere Metropolen auch. Das macht die Bürgermeisterwahl am Dienstag (05.11.2013) über die USA hinaus interessant: wachsende Ungerechtigkeit, horrende und immer noch steigende Mieten, wenige Reiche, die aber die Wirtschaft am Laufen halten. Und viele Arme, die auch leben wollen.
"Keine Frage: New York ist heute eine viel lebenswertere Stadt als noch vor zehn, 20 oder 30 Jahren", sagt Sam Roberts. Ende der 1970er Jahre war die Stadt fast bankrott. "Die Kriminalität wucherte, es gab überall Slums und verlassene Häuser", erzählt der Reporter der New York Times. Die Mittelschicht war in die Vororte geflüchtet. Und die Stadt suchte ihr Heil im Neoliberalismus: weniger Geld für Sozialausgaben, mehr Anreize für Großunternehmen.
Mit Bloomberg kam 2002 selbst ein Großunternehmer an die Macht. Ein autokratischer Herrscher, sagen Kritiker. Und doch: New York ist unter ihm sicherer, sauberer und wohlhabender geworden. Die Kriminalitätsrate ist auf einem Rekordtief. Es gibt mehr Radwege, mehr Parks und Grünflächen - und die 8,3 Millionen New Yorker leben gesünder und länger als noch vor einem Jahrzehnt.
Trotzdem gibt es ein großes "Aber": "Es ist eben keine Stadt, die man sich gut leisten kann", so Roberts. Rund 46 Prozent leben nach Angaben der New Yorker Behörden unterhalb der Armutsgrenze oder gerade noch darüber. Beispielsweise gilt eine Familie mit zwei Kindern als arm, wenn ihr weniger als rund 23.000 US-Dollar brutto pro Jahr zur Verfügung stehen. "Doch dafür hat Bloomberg kein Gehör."
Kämpfen, damit es für die Miete reicht
Im Osten Manhattans sitzt Howard Brandstein vor einer alten jüdischen Synagoge und beißt in einen rohen Rosenkohl. Heute ist hier das "6th Street Community Center", ein Zentrum von Bürgern für Bürger - und Brandstein dessen Direktor. Ende der 1970er Jahre kam er an die Lower East Side, "als die Regierung noch etwas für die Leute gemacht hat". Früher war diese Ecke Manhattans ein Arbeiterviertel. Heute ähnelt sie dem Berliner Kreuzberg: Biosupermärkte neben Hipster-Cafés, dazwischen blühen kleine Nachbarschaftsgärten.
"Die Gentrifizierung seit Mitte der 1980er Jahre ist wirklich erstaunlich", sagt Brandstein. "Gentrifizierung" nennen Fachleute den Prozess, den derzeit viele Stadtviertel weltweit erleben: Häuser werden renoviert, die Wohnqualität steigt - aber ebenso die Mieten, die sich dann viele nicht mehr leisten können. "Alles in Privatbesitz", sagt Brandstein und zeigt auf die Backsteinhäuser auf der anderen Straßenseite. "Will man hier eine kleine 3-Zimmer-Wohnung mieten, kostet das mindestens 2000 US-Dollar (ca. 1500 Euro) im Monat."
2002 gaben die New Yorker durchschnittlich 28 Prozent ihres Nettoeinkommens für Miete aus, 2009 waren es bereits 34 Prozent. Bei Geringverdienern sind es sogar bis zu 50 Prozent. "Die Leute müssen kämpfen, hart arbeiten und sich abmühen, um die Miete hier noch zahlen zu können", sagt Brandstein.
Und die Mittelklasse schrumpft. "Kürzlich habe ich eine Beamtin gefragt, wie sie Mittelklasse definiert. Und sie sagte: Ein Haushalt, der rund 100.000 US-Dollar (75.000 Euro) im Jahr verdient", erzählt Times-Reporter Sam Roberts. "Überall sonst wäre das schon reich oder zumindest wohlhabend. In New York sind die Lebenskosten aber so hoch, dass es nur zur Mittelklasse reicht."
Milliardärs-Traum aus Stahl und Beton
New York ist unter Bloomberg zum Luxusprodukt geworden - attraktiv für Touristen und für Milliardäre. In keiner anderen Stadt der Erde leben so viele Milliardäre, viele von ihnen sind Bloombergs Freunde. Für 40 Prozent der Stadtfläche ließ er die historische Nutzungsbeschränkung aufheben - und seitdem wird gebaut: an der Waterfront in Brooklyn oder Queens, die Hudson Yards am Westrand Manhattans und immer wieder mittendrin in der Stadt. Kaum eine Ecke ist ohne Baugerüst. Das Wachstum zum Wohle Weniger soll langfristig die ganze Stadt bereichern, so Bloombergs Plan.
Doch dieses Versprechen hat sich bislang nicht erfüllt. Zwar wurden mehr als 200.000 neue Wohneinheiten gebaut. "Aber", sagt Sam Roberts von der New York Times, "nur ein geringer Teil davon ist tatsächlich bezahlbar."
Geschichte zweier Städte
Wie kann New York also eine vibrierende, moderne Metropole bleiben und gleichzeitig niemanden zurücklassen? Bei der Bürgermeisterwahl ist das die zentrale Frage. Der Demokrat Bill de Blasio arbeitet als Bürgerbeauftragter der Stadt und gilt als aussichtsreichster Kandidat - auch, weil er die Geschichte zweier Städte erzählt: die des reichen und die des armen New Yorks. "Ohne einen drastischen Richtungswechsel", sagt der 52-Jährige in seinen Wahlkampfreden, "ohne eine Wirtschaftspolitik, die die Ungleichheit bekämpft und unsere Mittelklasse wieder aufbaut, werden künftige Generationen New York nurmehr als Spielplatz der Reichen erleben."
De Blasio plant, die lokale Reichensteuer anzuheben. Er will neue, bezahlbare Wohnungen bauen. Und er möchte Steuervergünstigungen für große Firmen streichen und sie kleineren Unternehmen zugestehen. Sein Gegenkandidat, der Republikaner Joseph Lhota, will die Steuern für Unternehmen und Hausbesitzer senken. Wenn es nach dem früheren Chef der New Yorker Metro geht, sollen Baufirmen Subventionen erhalten, um bezahlbare Wohnungen zu schaffen.
De Blasio will, dass es den New Yorkern gut geht - damit New York profitiert. Lhota möchte, dass New York gedeiht, auf dass die New Yorker etwas davon haben. Eine gespaltene Stadt hat die Wahl.