Nicht Chicago. Nicht hier.
22. August 2010Viele Erwachsene können sich nicht vorstellen, was heute bisweilen an Schulen geschieht. Kirsten Boie ging es nicht anders. Sie hörte erst durch ihre Kinder davon. Erschüttert begann sie zu recherchieren und erfuhr von Geschichten mitten in Deutschland, die sie nie für möglich gehalten hätte. "Wir sind doch hier nicht in Chicago", lässt sie Karin sagen, die Mutter in dem Jugendroman "Nicht Chicago. Nicht hier". Und doch herrschen hierzulande ähnliche Gewaltverhältnisse.
Chicago ist überall
Kirsten Boie vermeidet die gängigen Klischees. Sie siedelt die Geschichte nicht in einem sozialen Brennpunkt an, wo Armut und Arbeitslosigkeit herrschen und Kinder verwahrlosen sondern in einem beschaulichen Vorort unter Schülern, die aufs Gymnasium gehen. Niklas ist nicht besonders gut in der Schule, Karl dagegen fällt das Lernen leicht. Er erbringt überdurchschnittliche Leistungen, ist ein cooler Typ, finden die Mitschüler, und er lässt sich nichts sagen.
Als er Niklas auszunutzen und zu quälen beginnt, agiert er so geschickt, dass niemand Verdacht schöpft. Die Lehrerin setzt die beiden sogar nebeneinander und fordert sie zur Zusammenarbeit auf. Als Niklas sich weigert, stößt er auf Unverständnis, und den Mut, sich offen über Karl zu beschweren, hat er nicht. Aus seinen Andeutungen aber wird niemand klug, und das Schlimme ist, man glaubt ihm nicht.
Schläge und Psychoterror
Kirsten Boie entwirft das Psychogramm eines eiskalten Jugendlichen, der die Schwächen seiner Mitschüler gnadenlos ausnutzt und sie verspottet. Er beklaut Niklas, demütigt und schlägt ihn und stiehlt schließlich sogar dessen weißes Kaninchen. Und er schafft es, dass andere ihm dabei helfen.
Eindrucksvoll schildert Kirsten Boie die ausweglose Situation, in der sich Niklas befindet. Er fühlt sich von allen verlassen und verraten. Die Lehrerin glaubt ihm nicht, in der Klasse ist er isoliert, und seinen Eltern gegenüber verschließt er sich. Er schämt sich für seine Schwäche, und seine Leistungen in der Schule werden immer schlechter. Erst als Niklas auch noch mit anonymen Anrufen zu Hause eingeschüchtert wird, begreifen die Eltern schließlich den Ernst der Lage und wenden sich an die Polizei. Doch die kann nichts tun, solange es keine Beweise gibt.
Gelobt und umstritten
Rund 50.000 Mal hat sich die gebundene Ausgabe von "Nicht Chicago. Nicht hier" verkauft. Als Taschenbuch ist es bis heute ein Renner und mit 13 Auflagen und rund 300.000 Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher Kirsten Boies. Es wurde ins Bulgarische, Litauische, Niederländische und Schwedische übersetzt. Beliebt ist es vor allem als Schullektüre, es gibt eine Reihe von begleitenden Unterrichtsmaterialien dazu. Unter Pädagogen jedoch ist es auch umstritten. Das harte und unversöhnliche Ende könnte Kinder in Konflikte stürzen, glauben manche.
Kirsten Boie und der Verlag empfehlen das Buch ab zwölf Jahren. Zum Alleinlesen für Jüngere sei es nicht gedacht, erklärt die Autorin. Als "Nicht Chicago. Nicht hier" 2000 für den Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch nominiert war, hat sie deshalb darum gebeten, es von der Liste zu streichen. Es sei ein Jugendbuch, betont Kirsten Boie.
Offene Fragen
Die Romanhandlung endet mit einem Schreiben vom Gericht. Niklas Vaters hatte Anzeige gegen Karl erstattet. Was in dem Brief steht, erfahren die Leser nicht, aber vermutlich die Mitteilung, dass das Verfahren eingestellt worden ist. Denn in einer Art Postskriptum heißt es: "Ich mach ihn tot. Ich bring ihn um, ich schwör." Mit diesen Worten beginnt auch der Roman. Es sind Niklas' Gedanken, nachdem er monatelang von Karl gequält worden ist.
"Nicht Chicago. Nicht hier" ist das meist diskutierte Buch Kirsten Boies. Bis heute bekommt sie Post von Eltern und Kindern, die Ähnliches erlebt haben. Auch Schulklassen schreiben ihr und viele beschweren sich über das offene Ende. Warum wird Karl nicht bestraft, fragen sie. Und was wird aus Niklas? Wird er Gewalt anwenden? Was hätte ihm helfen können? Mehr Sensibilität und Offenheit unter den Klassenkameraden hätte vielleicht manches verhindern können, schreibt Kirsten Boie dann in ihren Antwortbriefen. Niklas wäre nicht so allein gewesen.
Mit "Nicht Chicago. Nicht hier" empfiehlt sie sich als sensible Autorin, die weiß, wie man Jugendliche mit einer aufwühlenden Geschichte fesseln und zum Nachdenken anregen kann.
Autorin: Heide Soltau
Redaktion: Gabriela Schaaf
Kirsten Boie: Nicht Chicago. Nicht hier. dtv junior. 127 Seiten. 5,95 Euro.