Interview mit Nike Wagner
23. Oktober 2011Wenn sich jemand im Kulturbetrieb auskennt, dann ist es Nike Wagner. Sie ist eine feinsinnige Autorin zum Thema Kunst und Musik, und sie ist scharfzüngige Kritikerin der Kunstszene. Die Deutsche Welle hat mit ihr über das Leben und Wirken von Franz Liszt gesprochen.
Deutsche Welle: Frau Wagner, wir haben uns gerade bei den Festspielen in Donaueschingen gesehen, wo Sie regelmäßig zu Gast sind. Glauben Sie, Franz Liszt wäre heute auch unter den Liebhabern oder gar Interpreten der Neuen Musik zu treffen?
Franz Liszt hat sich immer als "Zukunftsmusiker" definiert, er hat immer die Werke seiner Zeitgenossen gefördert und unterstützt. Ich bin mir sicher, dass er auch heute in den Zentren der Neuen Musik oder dort, wo Uraufführungen stattfinden, als Interpret oder Komponist anzutreffen wäre.
Sie sind in Bayreuth wohl zwangsläufig mit Wagner aufgewachsen. Wann und wie haben Sie ihren Zugang zu Liszt gefunden? Denn zu Liszt bekommt man bei weitem nicht so selbstverständlich einen Zugang wie etwa zu Mozart…
Ganz richtig. Man bekommt seine Werke einfach nicht genug zu hören. Bekannt waren mir allenfalls die "Liebesträume" oder die "Ungarischen Rhapsodien" - Bruchteile seines gigantischen Gesamtwerks. Ich geniere mich dafür, muss aber zugeben, dass ich erst sehr spät auf Franz Liszt aufmerksam geworden bin. Das ging über mein Interesse an der zeitgenössischen Musik, aus diesem Milieu hörte ich immer begeisterte Kommentare über den Komponisten Franz Liszt. Und endlich habe ich ihn auch entdeckt - über sein Spätwerk, über das Werk, von dem Bartók sagte, dass es die Tore zur Musik des 20. Jahrhundert geöffnet habe. Bald darauf kam der Auftrag, in Weimar ein Festival zu leiten. Ich habe dieses Festival Franz Liszt gewidmet, der hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts der musikalische "local hero" war. Seither führe ich seine Werke hier jedes Jahr auf - so oft es möglich ist.
Was empfehlen Sie einem unvorbelasteten Musikliebhaber: Wie sollte man sich Franz Liszt annähern?
Ich würde doch denken: über das Spätwerk – zumeist Klavierstücke, aber auch geistliche Musik. Diese Musik hat eine fast existenzielle Kargheit, die Tonalität ist oft nicht mehr definierbar, der Klang anrührend traurig. Und dann sollte man sich rückwärts arbeiten, auch die Werke der 30er und 40er Jahre entdecken, "Années de pèlerinage" zum Beispiel, den großen Klavierzyklus, oder die "Transzendentalen Etüden", die zur Zeit Liszts gar nicht spielbar waren.
Und man wird den Romantiker Liszt entdecken, der fähig war, Naturstimmungen, Kunsteindrücke oder aufregende Geschichten aus der Weltliteratur in Musik zu verwandeln. Er machte ja nicht direkt Programmmusik, sondern erfand eigene poetische Verarbeitungen. Und dann, würde ich sagen, sollte man schleunigst die Symphonischen Dichtungen kennenlernen. Das sind orchestrale Riesenwerke, die manchmal befremden durch einen gewissen Bombast, durch ihren unbeirrbaren Glauben an Ideale. Aber auch da wird man entdecken, dass es aufregende Abenteuerfahrten sind. Franz Liszt liebte die Extreme. Entweder geht es bei ihm hoch in den Himmel hinein oder in alle Höllen, er liebte das Diabolische, Mephistophelische, Schneidende und Bizarre; fast machte er schon Kinomusik.
Man hört immer wieder – auch aus Fachkreisen – dass das Symphonische Werk Liszts wenig tauge, dass der großartige Klaviervirtuose vielleicht ein passabler Improvisator, aber nie ein großer Komponist war. Speziell stehen seine großen Symphonische Dichtungen in dieser Kritik. Was ist daran wahr, wo kommt sie überhaupt her?
Schon zu Lebzeiten Franz Liszts gab es viel Kritik an seinen Orchesterwerken. Ein Teil des Publikums, auch seine Freunde - wie Schumann und die ganze klassizistische Schule - haben es Franz Liszt verübelt, dass er vom Virtuosen zum Orchesterkomponisten geworden ist. Sie haben seine Art der Programm-Musik und seine wilden Experimente nicht verstanden. Schon gar nicht haben die Kollegen ihn unterstützt, wie er sie unterstützt hatte, ob Wagner oder Berlioz: Sie haben seine Werke nicht dirigiert, sind nicht für ihn eingetreten. Und es gibt das alte Vorurteil, er hätte doch beim Klavier bleiben sollen, er habe kein Talent fürs Orchestrieren. Aber dieses Vorurteil muss man immer wieder überprüfen, es stimmt ganz einfach nicht. Es gibt schwächere Werke, auch unter den Symphonischen Dichtungen, aber es gibt auch die harmonisch sehr kühnen und hinreißenden Werke.
Was fasziniert Sie an dem Menschen Franz Liszt?
Liszt hatte einen fabelhaft noblen und souveränen Charakter. Darüber sind sich alle einig, auch seine Gegner. Man muss ihn deswegen nicht zum Heiligen verklären, wie die damaligen Biografen, sondern nur sehen, was er gemacht hat: wie er die Zeitgenossen, an deren Musik er glaubte, gefördert und unterstützt hat, wie er das Geld, das er in seinen Virtuosenjahren verdiente, ständig zu Benefiz-Zwecken verwendete – die armen Musiker, die Witwen und Waisen, die Katastrophenopfer oder auch das Beethoven-Denkmal in Bonn... Man kann gar nicht alles aufzählen. In seiner Generosität, in seiner Uneigennützigkeit und auch menschlich ist Franz Liszt unvergleichlich. Das hat es in der Musikgeschichte wohl nicht noch einmal gegeben – alles so bedingungslos in den Dienst der Musik und der Kunst zu stellen, ohne das Ego in den Vordergrund zu rücken.
Gräfin Marie d’Agoult, Ihre Ur-Urgroßmutter, bezeichnete ihren Ex-Geliebten und den Vater ihrer drei Kinder einmal zornig als "Don Juan parvenu" und unterstellte ihm alle möglichen Niedrigkeiten. Finden Sie in der Lebensgeschichte Franz Liszts etwas Unwürdiges, gar Frauenfeindliches?
Nein, überhaupt nicht. Das muss man historisch verstehen: Es ist undenkbar, dass ein so aufstrebendes Klavier-Genie sich an den heimische Herd hätte fesseln lassen, wie Marie d'Agoult das damals wünschte. Ein junger Künstler will hinaus in die Welt, und Europa lag Liszt zu Füßen. Das mit dem "parvenu" ist in der Wut und Eifersucht gesagt. Auffallend aber ist, dass sich Franz Liszt (im Gegensatz zu Richard Wagner) fast ausschließlich in aristokratischen Kreisen bewegte. Darüber müsste man nachdenken, denn auf der anderen Seite hat er die Musik "emanzipiert" – nicht nur formal, sondern auch im bürgerlichen Sinne. Er ist ja kein aristokratischer Salonvirtuose geblieben. Da gibt es durchaus diesen Widerspruch: zwischen einem Vorwärts in der Musik, einem Engagement für soziale Gerechtigkeit und dem Verbleiben in den restaurativen sozialen Zirkeln. Aber es ist nie so, dass er die Musik an eine restaurative Epoche verraten hätte. In seiner Vorliebe für "Etikette" und gute Formen hat sich Liszt aber der Aristokratie durchaus angepasst. Gerade diese Diskrepanz zwischen Formbewusstsein im Leben und Formexperimenten in der Musik ist doch interessant.
Gibt es ein Werk von Franz Liszt, das Ihnen persönlich ganz besonders am Herzen liegt?
Ich glaube, es ist die h-moll Sonate. Ich finde dieses Werk derartig verrückt: die vierteilige Sonatenform in sich aufzusaugen und in einem Satz von über einer halben Stunde durchzuziehen - dieses Werk fasziniert mich immer wieder.
Das Interview führte Anastassia Boutsko
Redaktion: Suzanne Cords