Norwegen: NATO übt den Verteidigungsfall
19. März 2022Während Russland bei seinem Angriff auf die Ukraine immer näher an NATO-Gebiete heranrückt, hält das Bündnis eine mehrwöchige große Militärübung in Norwegen ab. Etwa 30.000 Soldaten, 220 Flugzeuge und 50 Schiffe aus 27 Ländern nehmen am NATO-Manöver Cold Response 2022 teil. Vier Menschen verloren ihr Leben als ein US-Militärflugzeug vom Typ V-22 Osprey am späten Freitagabend während der Übung abstürzte. Bei den Toten soll es sich um US-Staatsbürger handeln.
Die Übung hat am 14. März begonnen und soll am 1. April enden. Auch die bündnisfreien Staaten Finnland und Schweden, die enge Beziehungen zur NATO pflegen, sind Teil dieser Verteidigungsübung.
Als das Manöver startete, schlugen gerade russische Raketen in einem Militärstützpunkt im Westen der Ukraine ein - nur 25 Kilometer von der Grenze zum NATO-Mitglied Polen entfernt. Oberstleutnant Ivar Moen, Sprecher des norwegischen gemeinsamen Hauptquartiers, macht jedoch klar, dass das Manöver bereits vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine geplant war.
"Normalerweise wird Cold Response jährlich im März abgehalten. Die Soldaten der NATO trainieren dort ihre Kampffähigkeiten im kalten norwegischen Wetter. Übungen finden zu Land, zu Wasser und in der Luft statt. Die diesjährige Übung wurde bereits vor Monaten geplant und steht in keinerlei Zusammenhang mit der russischen Invasion der Ukraine", unterstreicht Moen gegenüber der Deutschen Welle.
"Hauptziel von Cold Response ist es, zu testen, wie Norwegen alliierte Verstärkungen aufnimmt und integriert. Diese Verteidigungsübung steht im Einklang mit Artikel 5 der NATO-Charta, nach der Verbündete einander im Falle eines Angriffs helfen müssen", fügt Moen hinzu.
Zur Übung gehört auch, dass Norwegen alle 57 Mitgliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), einschließlich Russland, zur Beobachtung der Übung einladen muss. Festgehalten wird diese Verpflichtung im Wiener Dokument, einer Reihe von Sicherheitsvereinbarungen zwischen europäischen Staaten, die unter anderem die Transparenz von militärischen Übungen gewährleisten sollen.
Der Kreml jedoch schlug die Einladung aus. Der französischen Nachrichtenagentur AFP gegenüber erklärte die russische Botschaft in Norwegen vor Beginn der Übung, dass "jede Aufstockung der militärischen Kapazitäten der NATO in der Nähe der russischen Grenzen nicht zur Stärkung der Sicherheit in der Region" beitrüge.
"Dies ist keine Aufstockung von Truppen. Es handelt sich um eine Verteidigungsübung und wir werden keine Übungen in der Nähe der russischen Grenze durchführen. Es ist schlicht eine jährliche Übung zur Gewährleistung der Sicherheit von Norwegen und seinen NATO-Verbündeten während der gegenwärtigen und zukünftigen Spannungen", betont Moen.
Fabrice Pothier, Geschäftsführer der Politikberatungsfirma Rasmussen Global, erläutert, wie sich Russlands Bewertung der NATO-Übungen in das Drehbuch Moskaus einfügt: "Russland gibt vor, sich durch die Übungen bedroht zu fühlen und behauptet, es handle sich um Truppenverstärkungen an seiner Grenze mit Norwegen. Doch die NATO darf Übungen abhalten, um ihre Truppen zu stärken. Daran ist nichts Bedrohliches."
Einsatz auf eisigem Gelände
Seit den fünfziger Jahren haben in Norwegen zahlreiche Militärübungen stattgefunden, in denen NATO-Staaten inmitten des kalten, rauen Klimas, zwischen Fjorden, Bergen und Meeren, ihre militärischen Fähigkeiten ausbauen. Das erste Cold-Response-Manöver wurde 2006 abgehalten. Die Planungen beginnen jeweils Monate im Voraus.
Laut der Ständigen Vertretung Norwegens bei der OSZE findet das diesjährige Manöver in drei Phasen im Südosten, in der Mitte und im Norden des Landes statt. Die erste Phase mit Marineübungen im Atlantik hat bereits begonnen. In der zweiten Phase liegt der Schwerpunkt auf Landeübungen, bei denen die effiziente Landung der NATO-Flugzeuge auf vereistem Gelände trainiert wird. Die letzte Phase umfasst die Landung mit Amphibienfahrzeugen sowie Gefechtsübungen an Land. Ziel der Übung ist es, sicherzustellen, dass Norwegen in der Lage ist, NATO-Einsätze zu bewältigen.
Trotz der zunehmenden Spannungen mit Russland und der Drohung des Kremls, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen, betont Oberstleutnant Moen, dass das Manöver Cold Response 2022 nicht um Übungen zur Abwehr nuklearer Bedrohungen erweitert werden wird. "In seiner Rolle als eine Art Beschützer des Nordens hat Norwegen diese Übung bereits vor dem Krieg in der Ukraine geplant. Dieser Plan wird ohne Änderungen umgesetzt", unterstreicht Moen.
Stefan Scheller von bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik ist überzeugt, dass Cold Response 2022 mit seinen Übungen mit Amphibienfahrzeugen unter kalten Wetterbedingungen dazu beitragen kann, die NATO zu stärken: "Es ist ausgesprochen positiv, dass sich 27 Staaten den Übungen angeschlossen haben. Je mehr Staaten teilnehmen, desto größer ist der Ausbildungseffekt für das Bündnis insgesamt." Und er fügt hinzu: "Es ist großartig, dass die Übung dieses Jahr nicht abgesagt wurde. Das Bündnis hätte sonst das falsche Signal gesendet und in diesen unruhigen Zeiten Schwäche gezeigt."
Diese Meinung vertritt auch Ivana Stradner, Beraterin bei der Foundation for Defense of Democracies: "Es gibt Leute, die argumentieren, diese Übung sei gefährlich, weil Russland sie missverstehen könnte. Die Übung ist jedoch ein Schritt in die richtige Richtung, denn wir dürfen Putin nicht erlauben, der NATO Vorschriften im Hinblick auf ihre Sicherheit zu machen. Diese Übung abzusagen, würde die NATO als schwach zeigen."
Verstärkung der Luftverteidigung
Auch wenn die NATO weiterhin Militärmanöver abhält, um ihr Gebiet sichern und ihre Fähigkeiten auszubauen, ist Fabrice Pothier von Rasmussen Global doch überzeugt, dass die derzeitige Sicherheitslage in Europa die NATO veranlassen sollte, sich auf andere Verteidigungsstrategien zu konzentrieren.
"Militärische Übungen tragen dazu bei, die Truppen zu stärken, aber ich erwarte von der NATO, dass sie auch in anderen Bereichen aktiver wird. Zum Beispiel bei der Abwehr militärischer Bedrohungen durch Russland und durch den Einsatz von Luftabwehrsystemen zum Schutz der Ukraine", so Pothier. "An den Rändern der NATO finden Angriffe statt und die einzige Möglichkeit der Verteidigung besteht darin, die Luftverteidigungskräfte der NATO auszubauen."
Stradner betont, dass die NATO nicht in ihrer Wachsamkeit nachlassen dürfe, auch wenn Putin die Allianz und ihre Übungen als Bedrohung wahrnimmt: "Russland behauptet ständig, es würde von der NATO bedroht, doch dieses Bündnis dient allein der Verteidigung und hat nicht vor, in russische Gebiete einzudringen. Wir können davon ausgehen, dass Putin die Schwachstelle der NATO finden wird, um die Allianz als Papiertiger vorzuführen. Die NATO muss also vorbereitet sein."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.
Der Beitrag wurde am 20.3. um einen Hinweis auf den Flugzeugabsturz während des Manövers ergänzt.